Schlangenlinien
war es genau umgekehrt: Sam war bereit, das Bild zu akzeptieren, das andere Leute von sich vermitteln wollten, und darauf reagierten sie positiv. Als ich ihn kennen lernte, glaubte ich anfangs, er wende eine besonders raffinierte Form paradoxer Psychologie an, aber mit der Zeit begriff ich, dass er tatsächlich keine Vorstellung von den Abgründen hatte, die in den meisten Menschen verborgen sind. Es war seine gewinnendste Eigenschaft... und die irritierendste...
»Jock muss doch immer sticheln«, sagte ich leichthin. »Er neidet anderen ihr Glück – besonders in der Liebe. Er hat ja auch selbst nur Negatives erlebt – geschiedene Eltern, einen Bruder, der sich das Leben genommen hat, eine gescheiterte Ehe, keine Kinder. Er würde dich garantiert mit seinen Sticheleien verschonen, wenn du ihm von deinem Infarkt erzählt und ihm nicht vorgelogen hättest, wie viel Geld du gemacht hast. Für ihn sieht es so aus, als wärst du der reinste Glückspilz. Du hast alles. Gesundheit. Geld. Eine treue Ehefrau.
Und
Söhne.«
Sam verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und starrte zur Decke hinauf. »Den Tod seines Bruders hat er nie verwunden.«
»Das sagst du immer, aber du hast mir nie erklärt, warum.«
»Ich wollte nicht, dass du womöglich voreilige Schlüsse ziehst.«
Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Wie hat sein Bruder sich eigentlich umgebracht?«
»Er hat sich eines Tages an einem Baum erhängt. Da kein Abschiedsbrief gefunden wurde, glaubte die Polizei an Mord, und der Hauptverdacht fiel auf Jock, weil er kurz nach dem Tod des Jungen in dessen Zimmer gewesen war und Geld genommen hatte. Am Ende kam der Coroner aber zu dem Schluss, dass der Junge über die Scheidung seiner Eltern deprimiert gewesen war, und entschied auf Selbstmord. Aber Jock zufolge hat der Tod seines Bruders die ganze Familie kaputt gemacht. Sie machten sich gegenseitig nur noch Vorwürfe.«
»Wie traurig«, sagte ich, und es war mir ernst mit meinen Worten. »Wie alt war der Bruder?«
»Sechzehn. Drei Jahre jünger als Jock.«
»Mein Gott, das ist wirklich tragisch. Was ist aus den Eltern geworden?«
»Jock hat nach der Scheidung jede Verbindung mit ihnen verloren. Ich glaube, er weiß nicht einmal, wo sie leben – ob sie überhaupt noch leben – ob er ihnen noch das Geringste bedeutet. Er behauptet, es mache ihm nichts aus, trotzdem meint er, unentwegt beweisen zu müssen, dass er ein toller Hecht ist.« Sam senkte den Blick, um sich anzusehen. »Das ändert nichts daran, dass er ein arrogantes, eigennütziges Schwein ist. Aber es erklärt wahrscheinlich, warum er so ist.«
Ja, das erklärt eine Menge, dachte ich und versprach, nett zu sein, wenn Jock sich mit dem Namen des Pfarrers von der Markuskirche melden sollte. Es erklärte allerdings nicht, woher Jock das Geld genommen hatte, um nach der Scheidung in das imposante und teure Haus in der Nähe vom Richmond Park ziehen zu können. Schließlich hatte er beim Verkauf des Reihenhauses in der Graham Street 21 nur die Hälfte des Erlöses bekommen.
Es wurde Mittwoch, ehe es mir gelang, Peter Stanhope persönlich zu sprechen. Auf alle meine früheren Anrufe hatte sich der Anrufbeantworter gemeldet, und ich fand es wenig sinnvoll, ihm lange Erklärungen darüber, wer ich war und weshalb ich ihn sprechen wollte, auf Band zu hinterlassen. Seine neue Gemeinde war in Exeter, ungefähr 100 Kilometer von Dorchester entfernt, und ich hatte mich gerade entschlossen, ihm zu schreiben, als er am Mittwochmorgen endlich selbst ans Telefon ging.
Ich hatte nur einmal persönlichen Kontakt mit ihm gehabt, als wir noch in Richmond lebten, und glaubte nicht, dass er sich so gut an mich erinnern würde wie ich mich an ihn. Ich nannte ihm meinen Namen und sagte, ich würde ihn gern einmal wegen Annie Butts sprechen. »Die Schwarze aus der Graham Road, die von einem Lastwagen überfahren wurde.«
Darauf folgte eine lange Pause, in der ich Zeit hatte, mich an Libbys Beschreibung des Mannes zu erinnern, »ein dicker kleiner Kerl mit Schweißhänden«. Ich begann schon, mich zu fragen, ob es vielleicht so still blieb, weil ihm der Hörer aus der Hand gerutscht war, als er plötzlich scharf fragte: »Sagten Sie Ranelagh? Irgendeine Verbindung zu der Frau, die damals behauptete, Annie sei ermordet worden?«
»Ich bin die Frau«, antwortete ich. »Ich hätte nicht gedacht, dass der Name Ihnen etwas sagt.«
»Aber gewiss doch! Sie waren ja eine Zeit lang eine richtige Berühmtheit.«
»Genau eine
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