Schlangenlinien
hatte und aussah wie geerbt. Ich erkannte nur wenige der Gesichter; längst nicht alle dieser Leute hatten zu meiner Zeit in der Gegend gelebt; aber an einige erinnere ich mich.
»Warum haben Sie so viele Aufnahmen gemacht?«, fragte ich Wendy. »Sie sind doch bestimmt nicht für alle bezahlt worden.«
»Ich fand, es wären interessante Dokumente für zukünftige Generationen«, antwortete sie. »Ich wollte Abzüge bei der Gemeinderegistratur hinterlegen. Dann hätten Leute, die Auskünfte über ihre Familien einholen wollten, nicht nur schriftliche Zeugnisse einsehen können, sondern auch bildliche.« Sie lachte. »Es war keine so tolle Idee. Es kostete so viel Zeit und Arbeit, ein Kreuzverweissystem für Bilder und schriftliche Einträge anzulegen, dass mir die Sache bald über den Kopf gewachsen ist. Danach habe ich aus Spaß an der Freude weitergemacht.«
Sie tat vieles aus Spaß an der Freude, stellte ich fest, und das gefiel mir. Ich fragte mich sogar, ob ich das, was ich tat, auch so begründen könnte. Würde irgendjemand mir glauben, dass ich Fragen über Annies Tod stellte, weil ich mich langweilte?
Ich wies mit dem Finger auf eine Familiengruppe. »Die Charles'«, sagte ich. »Sie wohnten neben uns, in Nummer drei.«
Wendy setzte sich neben mich aufs Sofa. »Paul und Julia. Sie hatten zwei Kinder, deren Namen ich vergessen habe. Mein Mann hat eines von ihnen getauft. Es hat den ganzen Gottesdienst hindurch gebrüllt wie am Spieß. Das sind die Bilder von der Taufe.«
»Jennifer«, sagte ich. »Sie hat immer gebrüllt, Nächte lang. Einmal ist Sam rübergegangen, um sich zu beschweren, weil wir wegen des Krachs nicht schlafen konnten, aber Julia war so fertig, dass sie gleich an der Tür zu heulen angefangen hat. Da hat er es nicht mehr über sich gebracht, was zu sagen. Wir haben uns dann immer Ohrstöpsel reingeschoben. Jennifer ist jetzt vierundzwanzig. Sie studiert Jura und lebt in Toronto. Die ganze Familie ist 1980 nach Kanada ausgewandert.«
»Alle Achtung! Sie sind wirklich gut informiert!«
»Das Gesicht dieses Mannes kenne ich«, sagte ich, auf ein anderes Foto deutend.
»Derek Slater«, sagte sie. »Ein grässlicher Typ – jedes Mal, wenn er betrunken war, hat er Frau und Kinder geprügelt. Die arme Frau ist immer zu uns geflüchtet, weil sie solche Angst vor ihm hatte.« Sie blätterte um und tippte mit dem Finger auf das Foto einer dunkelhaarigen Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm. »Das ist sie – Maureen Slater. Sie hatte vier Kinder von ihm – zwei Jungen und zwei Mädchen –, die alle irgendwann verdroschen wurden. Und Derek wurde dauernd festgenommen – meistens wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses –, aber ich glaube, er hat auch ein paar Mal wegen Diebstahls gesessen.« Sie zeigte auf das Gesicht des kleinen Kindes. »Ja, Derek war ganz bestimmt eine Zeit lang im Gefängnis, der Kleine da kam nämlich lange nach den drei anderen zur Welt. Soviel ich weiß, lebt Maureen noch in der Graham Road, aber was aus Derek geworden ist, weiß der Himmel. Irgendwann 1979 oder 1980 kam es zu einem furchtbaren Auftritt, als der älteste Sohn endlich den Mut fand, sich mit einem Baseballschläger gegen ihn zu verteidigen, und ihn aus dem Haus jagte.«
»Alan, richtig?«
»Ja. Haben Sie ihn gekannt?«
»Er hatte ein Jahr lang Englischunterricht bei mir – groß und kräftig, mit Riesenhänden. Sie wohnten gleich neben Annie am Ende der Straße. Nummer zweiunddreißig. Haben Sie von Alan auch ein Foto?«
»Ich glaube schon... aber es ist nicht in der Kirche aufgenommen worden. Soweit ich mich erinnere, ist der nur in die Markuskirche gekommen, wenn er ausbaldowern wollte, ob es was zu stehlen gäbe.« Sie schnalzte leise mit der Zunge und schüttelte den Kopf.
Maureen und Danny Slater vor der Markuskirche, Sommer 1978
Derek Slater auf einer Parkbank vor der Markuskirche, Sommer 1978
»Er hat geklaut wie ein Rabe. Einmal, als Maureen wieder bei uns untergeschlüpft war, hat er die Brosche meiner Mutter mitgehen lassen. Das habe ich ihm nie verziehen. Aber wissen Sie, die Kinder haben alle gestohlen – bei einem Vater wie Derek wahrscheinlich nicht anders zu erwarten. Es ist schon traurig zu sehen, wie die Sünden der Väter an die nächste Generation weitergegeben werden.«
»Haben Sie den Diebstahl damals angezeigt?«
Sie seufzte. »Das hätte doch nichts gebracht. Er hätte einfach geleugnet. Außerdem war es meine eigene Schuld. Ich hätte
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