SCHLANGENWALD
weiteren Glas Sekt, das der Kellner nachschenkte, sanken. Im Laufe des Abends wechselten sie zu persönlicheren Themen. Oder besser: Paula erzählte aus ihrem Privatleben und Kandin hörte zu.
Als sie sich nach dem Dessert auf die Toilette begab, verfluchte sie die Höhe ihrer Absätze. Sie war bereits sehr beschwingt und fürchtete, jeden Moment den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Die Einladung, noch auf einen Drink in die Innenstadt zu gehen, nahm Paula trotzdem an. Obwohl bereits alle Alarmglocken läuteten und ihre innere Stimme zum Heimgehen mahnte, solange sie sich noch auf den Stöckeln halten konnte. Doch da war diese Mischung aus sexueller Anziehung, kindlicher Rachsucht gegenüber Markus und viel zu viel Alkohol. Irgendwann spürte sie Kandins Lippen auf ihren Ohrläppchen, am Hals und auf den Wangen. Im Hintergrund spielte Musik von Barry White , Can’t get enough of your Love Babe. Der Raum war in bunte Lichter getaucht, die vor ihren Augen verschwammen, und Paula war unfähig, sich aus den tiefen Sitzen aufzurichten. Alles drehte sich in ihrem Kopf, sie sah schemenhaft Menschen, die zu ihnen herüberblickten. Sie spürte Kandins Hände, die über ihre Brüste strichen und sich langsam unter das Kleid schoben. Paula war heiß, aber nicht mehr von der Lust, die sie zuvor hatte schweben lassen. Sie schwitzte, ihr war übel, sie musste unverzüglich aufs Örtchen. Paula schob Kandins Hände weg, die überall auf ihrem Körper gleichzeitig zu sein schienen, wühlte sich aus den Kissen und torkelte in Richtung Damenklo. Die High Heels hatte sie inzwischen ausgezogen. Auch ohne sie war es schwer genug, kein gefallenes Mädchen zu sein. Kandin eilte rasch hinter ihr her, stützte sie und folgte ihr auf die Toilette. Mit Müh und Not schob sie ihm die Tür vor der Nase zu. Gerade noch rechtzeitig, bevor sich ihr Innerstes über die Speiseröhre nach außen ergoss.
„Kann ich etwas für dich tun?“, hörte sie Kandin fragen.
„Ich will nur meine Ruhe“, lallte Paula, bevor sie sich erneut übergab. Nach einer Weile war der Spuk vorbei. Nur mit Mühe erinnerte sie sich, was in der letzten Stunde vorgefallen war, und sobald ihr Gedächtnis einsetzte, hätte sie die negativen Gefühle, die es mit sich brachte, am liebsten gleich wieder verdrängt. Morgen, wenn sie nüchtern war, würde sie sich um Schadensbegrenzung bemühen. Jetzt wollte sie nur rasch nach Hause. In ihr Bett. Allein. Wo war ihr Handy? Sie tastete nach der Tasche. Zum Glück hing diese noch immer quer über ihren Oberkörper. Paula war vorhin schon zu betrunken gewesen, um sie abzulegen. Glück im Unglück: Das Handy war da, es hatte Empfang und – Clea war zu Hause.
„Clea, hol mich ab. Ich bin betrunken. Bitte komm.“ Paula nannte den Namen der Bar, die nicht weit von ihrer Wohnung entfernt war.
„Rühr dich nicht von der Stelle, ich bin schon unterwegs!“ Keine Viertelstunde später vernahm Paula die Stimme ihrer Freundin vor der Klotür.
Gemeinsam verließen sie die Toilette und strebten dem Ausgang zu.
„Hast du denn keine Schuhe?“, bemerkte Clea und starrte auf Paulas Füße. Eine Laufmasche jagte von der Ferse über die Wade.
„Doch, irgendwo. Da hinten. Vergiss sie! Die sind zu nichts gut. Mit denen kann ich nicht einmal mehr stehen.“
Einige der Besucher tuschelten und lachten, als Paula an ihnen vorbeischwankte, und ein Mann machte eine eindeutig sexistische Geste. Das hatte sie nun davon, dass Kandin so zuvorkommend gewesen war, ihr ins Klo zu folgen. Nun waren einige Beobachter wohl überzeugt, dass sie es dort miteinander getrieben hatten.
„Fick dich ins Knie, du Trottel!“, fuhr Clea den Mann an und schob die Freundin vor sich her. Von Kandin war weit und breit nichts zu sehen, worüber Paula erleichtert war. Die Situation war so schon peinlich genug. Draußen verlud Clea die betrunkene Paula in das bereits wartende Taxi und bald darauf kamen sie zu Hause an. Paula war froh, als sie nach einer Dusche ins Bett sank. Dass ihre Fußsohlen noch immer schmutzig vom Laufen ohne Schuhe waren und die teuren Strümpfe nun im Mülleimer lagen, störte sie nicht. Das war zu diesem Zeitpunkt das geringste Übel. Alles drehte sich im Kopf, der Magen fühlte sich flau an, aber zumindest war ihr nicht mehr so schlecht, dass sie sich übergeben musste. Ihr einziger Wunsch war, möglichst lange zu schlafen. Nicht zuletzt, weil mit jeder Stunde, die sie auf diese Weise überbrückte, das peinliche Erlebnis weiter in die
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