SCHLANGENWALD
Blanco öffnete die Tür und die drei Eindringlinge schlichen über den Platz zum Abfalldepot zurück. Die Scheinwerfer, die das Areal plötzlich in gleißendes Licht tauchten, ließen sie erstarren. Schützend hielten sie sich die Hände vor die geblendeten Augen. Laute Stimmen waren zu hören, und als sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, sahen sie, dass sie von vier Männern umringt waren, von denen jeder eine Waffe trug. Die Gesichter waren hinter schwarzen Mützen versteckt. „Hände hoch!“, brüllte einer von ihnen. Die drei hoben wortlos die Arme. Paula kam es vor, als wäre sie in einem Actionfilm gelandet. Ein Genre, das sie nicht als Zuseherin und schon gar nicht als Beteiligte interessierte. Der Lärm, ständiges Geballere, Brutalität und Verfolgungsjagden mit zahlreichen Blechschäden waren ihr schon immer zuwider gewesen. Die Rolle, die ihnen in diesemReal-Thriller zugewiesen wurde, missfiel ihr noch mehr. Ihr Herz raste und sie wusste nicht, ob sie vor Kälte oder vor Angst zitterte.
„Was wollen Sie in unserer Anlage?“, herrschte einer der Männer sie an. Alle drei schwiegen. Paula blickte zu Boden.
„Es ist Ihr Problem, wenn Sie keine Antwort geben“, fuhr der Mann fort. „Aber ich kann mir schon vorstellen, was Sie hier wollten. Diese Müllanlage hat Sie ja von Anfang an interessiert.“
Er fuchtelte mit seiner Waffe vor Paulas Nase herum. So musste sich ein Kaninchen fühlen, wenn es vor der Schlange stand. Bewegungslos starrte sie auf die Mündung der Pistole, mitten in den kleinen schwarzen Punkt hinein, aus dem in Sekundenschnelle der Tod herausschießen konnte. Ein einziger Gedanke durchfuhr sie: Ich will, ich darf nicht sterben! Langsam senkte der Mann die Waffe. Paula war sicher, dass er hinter seiner Maske grinste.
„Sie hätten besser verschwinden sollen, wie es von Ihnen verlangt wurde. Aber wir werden Ihnen Gelegenheit geben, gemeinsam über alle Dinge, die Sie besser nicht hätten tun sollen, nachzudenken.“
Zu Blanco gewandt blaffte er: „Das gilt auch für dich, du fanatischer Wortverdreher!“
„Sind Sie das, Manuel?“ Irgendetwas war Paula bekannt vorgekommen, als der Vermummte mit ihr sprach. Dann fiel es ihr ein: das Muttermal auf dem Nasenansatz! Der Mann, der mit der Pistole herumfuchtelte, war derselbe, der an ihrem ersten Tag in Tico World das Fenster der Müllanlage geöffnet und den sie dann öfter bei Emilio gesehen hatte. Er drehte sich langsam zu ihr um und richtete erneut die Waffe auf sie. Paula verwünschte einmal mehr ihr loses Mundwerk. Vielleicht war es besser, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, bevor er sie als Zielscheibe benutzte?
„Sie sind also der Freund von Kandin“, plapperte sie, so gut sie konnte, auf Spanisch los. „Meine Güte, Sie haben doch Familie, wie können Sie nur mit so einem Menschen gemeinsame Sache machen? Wissen Sie eigentlich, welche Geschäfte Kandin macht?“
„Halten Sie den Mund! Wir hier wissen alle, warum wir auf Kandins Seite stehen“, brüllte er.
„Dann wissen Sie auch, dass unter der Anlage zig Fässer mit Blausäureschlamm lagern? Eine hochgiftige Substanz, die auch das Wasser, das Sie und Ihre Kinder trinken werden, verseuchen wird?“, versuchte Blanco ihn von Paula abzulenken.
Der Mann blickte ihn an und schrie: „Was erzählen Sie da für Lügen?“ Die anderen Männer nickten beifällig mit den Köpfen.
„Sie sind alle Unruhestifter, die unsere Arbeit behindern. Ich weiß nicht, was Señor Kandin mit Ihnen machen wird, aber ich würde Ihnen am liebsten gleich eine Kugel verpassen!“
Bei diesen Worten hob er drohend die Waffe und setzte sie an Blancos Schläfe. Paula stieß einen gellenden Schrei aus.
„Manuel!“, brüllte einer der Männer und ließ einen Wortschwall auf Spanisch los. Der hitzige Bursche ließ die Pistole sinken und stieß Blanco und Sally damit ins Kreuz, zum Zeichen, dass sie losgehen sollten. Paula vermied es, den Vermummten, der neben ihr ging und die Waffe immerzu auf sie gerichtet hatte, anzusehen.
Sie wurden aus der Müllanlage geführt. Aber sie gingen nicht zu Kandins Büro, wie Paula vermutet hatte, sondern peilten das Castel Tico an. Die Baugerüste waren bereits abmontiert worden und das schlossartige Gebäude wirkte im Mondlicht noch gigantischer. Dort angekommen, wurden sie zu einer metallenen Kellertür bugsiert. Unsanft packten die Männer sie an den Oberarmen und schubsten sie schließlich in einen dunklen Raum ohne Fenster. Die Tür wurde von
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