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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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war Ruhe, dann raschelte es wieder aufdringlich vor meinem Gesicht.
    »Vio …«, begann ich drohend und öffnete erneut die Augen. Eine Lila mit Augen, die Blitze schleuderten, und übertrieben gefletschten Zähnen grinste mir vom herausgerissenen Blatt eines Spiralblocks entgegen. Die Karikatur war gut getroffen und ich musste kichern. Im Zeichnen war Vio einfach unschlagbar. Kunst war das einzige Fach, in dem sie immer die Bestnote absahnte, und der Kunstlehrer wahrscheinlich der Einzige im ganzen Lehrerkollegium, der Vio gut leiden konnte.
    »Hey, du könntest nach Paris gehen. Am Montmartremachen Maler mit solchen Karikaturen sicher eine Menge Kohle«, meinte ich und nahm Vio das Blatt aus der Hand.
    Ich war mit meinen Eltern mal ein paar Tage in Frankreich gewesen. Meine Mutter war damals im sechsten Monat schwanger mit meinem kleinen Bruder Julius. Inzwischen hatte der sich zu einer dreijährigen Nervensäge entwickelt – eine Städtereise konnten wir uns momentan abschminken. Jetzt planten meine Eltern vier Tage Urlaub auf dem Bauernhof. Mit Julius. Ohne mich, glücklicherweise.
    Meine Gedanken kehrten zu Vios Zeichnung zurück. Echt der Hammer, wie sie mein Gesicht mit wenigen Strichen ihres Kulis hingekriegt hatte.
    Vio seufzte sehnsüchtig. »Paris, das wär’s – da würde ich gern Kunst studieren«, sagte sie. Ihre Stimme wurde eifrig: »Und du könntest an die Sorbonne gehen, um dort Sprachen oder so was zu studieren. Das Quartier Latin ist total angesagt!«
    Ich war ehrlich überrascht, dass Vio wusste, in welchem Viertel die Sorbonne lag und was man dort studieren konnte. Sie bemerkte mein Erstaunen und musterte mich strafend. »Denkst du, ich bin blöd? Natürlich hab ich mich mit Paris beschäftigt! Alle waren zum Malen dort! Franz Marc, August Macke, Klee, Kandinsky …«
    Vio ratterte die Namen der berühmten Maler, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts zur Künstlervereinigung »Der Blaue Reiter« zusammengeschlossen hatten, herunter. Viele von ihnen waren in Murnau zu Gast gewesen und hatten hier gemalt: bei der Malerin Gabriele Münter, in deren Haus, das mitten im Ort stand und heute ein kleines Museum war. Vio ließ man inzwischen umsonst rein. Sie kam fast jede Woche und konnte sich an den Bildern nicht sattsehen.

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: paris

    liebe vio,
    wenn ich an dich denke, dann will ich nicht deinen schlichten, mit weißen lilien geschmückten sarg vor mir sehen, sondern ich versuche, mir dich in paris vorzustellen: wie du in einem langen, taillierten mantel die champs-élysées entlanggehst, deinen zeichenblock und einen hölzernen kasten mit kohlestiften unter dem arm.
    du hattest schon ganz konkrete pläne, wie unser leben nach dem abi in paris aussehen sollte: eine wohnung im quartier latin würden wir uns nehmen und jeden tag café au lait trinken.
    »und morgens kaufen wir ganz frisches baguette, lila! das essen wir dann am abend zum rotwein, wenn wir auf unserem balkon sitzen. du weißt schon, so einer mit verschnörkeltem, schmiedeeisernem geländer, wo wir über die dächer von paris sehen können!«
    liebe vio, ich werde nie nach paris gehen, denn bei jedem schritt würde ich daran denken, dass du nicht bei mir bist. wie im märchen von der kleinen meerjungfrau würde sich jeder schritt wie ein schnitt mit einem scharfen messer anfühlen, der mitten durchs herz geht. sagt man nicht, paris ist die stadt der liebe? für mich wird ab jetzt paris die stadt sein, die mich immer dran erinnert, dass ich dich nie wiedersehen werde. und das schlimmste: ich bin vielleicht schuld daran.
    deine lila

    Am nächsten Tag, als wir vorm Schulkiosk standen und warteten, bis wir drankamen, zog Vio den Ausdruck einer Internetseite aus ihrer Tasche und wedelte triumphierend damit herum. Ich schnappte ihn mir und las die Überschrift: »Studiengänge an der Sorbonne«. Ich muss Vio verständnislos angesehen haben, denn sie schnaubte empört: »Du hast jetzt nicht vergessen, was wir gestern wegen Paris besprochen haben, oder?«
    Ich beeilte mich, den Kopf zu schütteln. Vergessen hatte ich es nicht, nur nicht ernst genommen.
    »Na, was plant ihr beiden – die Weltherrschaft?«, ertönte es hinter uns. Wir fuhren herum. Schon wieder Grover.
    »Nichts, Frauengespräche«, raunzte ich ihn an und steckte schnell Vios Papier in meine Schultasche. Er grinste nur. Ihn brachte wohl so schnell nichts aus der Fassung.
    »Ach so – da kann ich natürlich nicht

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