Schleichendes Gift
»Und Sie haben die Ergebnisse heute früh bekommen?«, fragte sie und versuchte, nicht aufgeregt zu klingen.
»Stimmt. Deshalb rufe ich an. Ach, Herrgott …« Flanagans Stimme versagte, und er hustete, um es zu verbergen. »Ich weiß nicht einmal, ob ich Ihnen das sagen sollte. Ich meine, es war ja Tage vor seinem Tod.«
»Kam etwas bei Robbies Test raus?«
»Das könnte man sagen. Im Labor hieß es … Ach, ich bring’s nicht über die Lippen.« Flanagan klang, als sei er den Tränen nahe.
Paula war schon durch die Küchentür auf die Treppe zugegangen. »Ich komme gleich bei Ihnen vorbei, Martin«, beruhigte sie ihn. »Warten Sie einfach. Sagen Sie niemandem etwas darüber. Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen. Okay?«
»Ist gut«, meinte er. »Ich bin in meinem Büro. Ich sage Bescheid, dass Sie kommen.«
Zu ihrer Überraschung spürte Paula, dass ihr die Tränen kamen. »Es wird schon gut«, versicherte sie und wusste genau, dass das eine Lüge war, aber andererseits keine Rolle spielte.
In den Räumen der Pathologie im Bradfield Cross Hospital war Carol Jordans Spezialistenteam wie zu Hause. Hier unterzog Grisha Shatalov die Leichen, die für sie von Interesse waren, der sorgfältigsten Untersuchung mit seinem Skalpell und seinem aufmerksamen Auge. Shatalovs Urgroßeltern waren vor fünfundachtzig Jahren aus Russland nach Vancouver ausgewandert. Grisha wurde in Toronto geboren und behauptete gern, dass seine Übersiedelung nach Großbritannien ein Teil der langsamen Rückwanderung seiner Familie nach Osten sei. Carol mochte seinen weichen Akzent und seinen selbstkritischen Humor. Sie mochte es auch, dass er die Toten mit dem gleichen Respekt behandelte, den er, wie sie glaubte, seiner eigenen Familie entgegengebracht hätte. Die Leichenhalle half Carol, ihr persönliches Engagement für die Gerechtigkeit immer wieder zu stärken. Wenn sie die Opfer sah, wurde der Wunsch, die Übeltäter der Gerechtigkeit zuzuführen, stets ein bisschen intensiver. Grishas Rücksichtnahme gegenüber diesen Opfern hatte ihre Anerkennung gefunden und zwischen ihnen eine besondere Verbindung entstehen lassen.
Heute war sie wegen Robbie Bishop hier. Die Obduktion hätte schon am Tag davor durchgeführt werden sollen, aber Grisha war auf einer Konferenz in Reykjavik gewesen, und Carol wollte nicht, dass sich jemand anders gerade mit dieser Leiche befasste. Grisha hatte früh mit der Arbeit begonnen, und als Carol kam, war er schon fast fertig. Als sie eintrat, sah er auf und begrüßte sie mit einem kurzen Nicken. »In zehn Minuten sind wir so weit, DCI Jordan.« Seine formelle Anrede war für die Digitalaufnahme gedacht, die eines Tages vielleicht dem Gericht vorgelegt werden würde. Bei abgeschaltetem Mikrophon sprach er sie mit Carol an.
Sie stand gegen die Wand gelehnt. Es war unmöglich, beim Gedanken an Robbie und das, was er gewesen war, nicht tiefe Traurigkeit zu fühlen. Geliebter, Sohn, Freund, Sportler. Jemand, dessen Eleganz der Bewegungen überall in die ganze Welt gesendet worden war, dessen Talent die Menschen glücklich gemacht hatte. All das war jetzt vorbei, weil der Wunsch irgendeines Dreckskerls, ihn aus der Welt zu schaffen, schwerer gewogen hatte als alle positiven Werte. Nun war es ihre Aufgabe herauszufinden, wer dieser Dreckskerl war, und zu garantieren, dass er nie wieder eine solch zerstörerische Tat begehen konnte. Sie war nie von ihrer Arbeit so überzeugt gewesen, hatte aber zugleich die Schwierigkeiten ihres Berufs nie so gehasst wie an diesem Tag.
Endlich war Grisha fertig. Nachdem alle Proben genommen, die Organe gewogen und die Einschnitte zugenäht waren, sah die Leiche ungefähr wieder so aus wie zuvor. Grisha zog seine Handschuhe aus, nahm die Maske ab und legte Schürze und Laborschuhe ab. Auf Socken ging er den Korridor entlang zu seinem Büro, und Carol folgte ihm.
Sein Arbeitsplatz stellte eine trotzige Demonstration gegen das papierlose Büro dar. Vollgestopfte Ordner, lose Blätter, zusammengebundene Papierstapel bedeckten jede Fläche außer dem Stuhl hinter dem Schreibtisch und einem Laborhocker an der Wand. Carol nahm ihren gewohnten Platz ein und sagte: »Also, was haben Sie für mich?«
Grisha ließ sich schwer wie ein Stein auf seinen Stuhl fallen. Sein vollkommen ovales Gesicht war grau vom Mangel an Schlaf und Tageslicht sowie der Wirkung seiner Arbeit in Kombination mit einem Baby, das die Freuden des Durchschlafens noch nicht entdeckt hatte. Unter seinen
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