Schleichendes Gift
an. »Das ist genau genommen Diebstahl, das weißt du doch.«
»Ach, das weiß ich. Aber sie ist eben meine Mutter.« Tony rutschte hin und her, bis er bequemer saß. »Und sie hat recht. Wozu brauche ich Geld? Ich habe alles, was ich brauche.«
»So kann man es auch sehen.« Sie schüttete den Inhalt einer Plastiktüte auf das Betttischchen. »Aber trotzdem kann ich nicht sagen, dass ich das gut finde.«
»Meine Muter ist eine Naturgewalt. Eigentlich ist meine Zustimmung unwichtig.«
»Ich dachte immer, deine Mutter sei schon gestorben. Du hast nie über sie gesprochen.«
Tony sah weg. »Wir hatten nie das, was man eine enge Beziehung nennen könnte. Zum größten Teil hat mich meine Gran großgezogen.«
»Das muss merkwürdig gewesen sein. Wie war es denn für dich?«
Er brachte ein kleines trockenes Lachen zustande. »Die Yorkshire-Version des Archipel Gulag . Ohne den Schnee.« Bitte, lieber Gott, mach, dass sie sich durch die Schnoddrigkeit ablenken lässt .
Carol räusperte sich. »Ihr Männer seid solche Waschlappen. Ich wette, du bist nie hungrig schlafen gegangen oder hast nachts im Bett nie gefroren.« Tony sagte nichts, denn er wollte weder Ärger noch Mitleid provozieren. Carol zog ein Holzkästchen aus der Tüte, öffnete es, und ein Schachspiel kam zum Vorschein.
Tony runzelte verwirrt die Stirn. »Wieso baust du ein Schachspiel auf?«, fragte er.
»Weil intelligente Menschen das machen, wenn einer von ihnen im Krankenhaus ist«, antwortete Carol bestimmt.
»Hast du dir heimlich Filme von Ingmar Bergman angesehen, oder was?«
»Wieso ist das so schwierig zu verstehen? Ich kenne die Spielregeln, und ich bin mir sicher, du auch. Wir sind beide intelligent. Es ist eine Möglichkeit, unsere Gehirne zu betätigen, ohne zu arbeiten.« Carol fuhr zügig fort, die Figuren aufzustellen.
»Wie lange kennen wir uns schon?« Tony lachte jetzt.
»Sechs, sieben Jahre?«
»Und wie oft haben wir irgendein Spiel gespielt, ganz zu schweigen von Schach?«
Jetzt hielt Carol inne. »Haben wir nicht mal … Nein, das waren John und Maggie Brandon.« Sie zuckte mit den Schultern. »Noch nie, nehme ich an. Das heißt aber nicht, dass wir es nicht tun sollten.«
»Du irrst dich, Carol. Es gibt sehr gute Gründe, warum wir es lassen sollten.«
Sie lehnte sich zurück. »Du hast Angst, dass ich dich schlage.«
Er rollte mit den Augen. »Uns beiden ist Gewinnen viel zu wichtig. Aber das ist nur einer der Gründe.« Er zog Kugelschreiber und Notizblock zu sich heran und fing an, etwas daraufzukritzeln.
»Was machst du da?«
»Ich werde dir deinen Willen lassen«, erklärte er geistesabwesend, während er schrieb. »Ich werde eine Partie Schach mit dir spielen. Aber vorher schreibe ich auf, warum es eine Katastrophe wird.« Er schrieb noch zwei Minuten weiter, riss die Seite heraus und faltete sie in der Mitte. »Also, dann lass uns loslegen.«
Jetzt war Carol mit dem Lachen an der Reihe. »Das meinst du doch nicht ernst, oder?«
»Sehr ernst.« Er nahm eine weiße und eine schwarze Figur, ließ sie schnell zwischen seinen Händen hin und her wandern und streckte ihr dann seine Fäuste hin. Carol wählte Weiß, und sie fingen an.
Zwanzig Minuten später hatten sie beide jeweils nur noch drei Figuren, und eine lange, eintönige Strategiephase stand ihnen bevor. Carol schnaufte heftig. »Ich halt das nicht aus. Ich geb auf.« Tony lächelte und reichte ihr den Zettel. Sie faltete ihn auseinander und las vor: »Ich brauche viel zu lange, bis ich einen Zug mache, weil ich alle Möglichkeiten vier Züge im Voraus überdenke. Carol macht auf Kamikaze und versucht, so viele Figuren wie möglich vom Brett zu bekommen. Wenn kaum noch welche übrig sind und es klar ist, dass es noch eine Ewigkeit dauern wird, langweilt sich Carol, wird gereizt und gibt auf.« Sie ließ den Zettel fallen und knuffte ihn leicht gegen den Arm. »Du Mistkerl.«
»Schach spiegelt sehr klar wider, wie Menschen denken«, sagte Tony.
»Aber ich gebe doch nicht so leicht auf«, wehrte sich Carol.
»Nein, nicht im wirklichen Leben. Nicht wenn etwas Wichtiges auf dem Spiel steht. Aber wenn es nur um ein Spiel geht, siehst du keinen Sinn darin, so viel Energie ohne die Garantie aufzuwenden, dass es ein Ergebnis bringt.«
Reuig packte Carol die Figuren zusammen und machte das Kästchen zu. »Du kennst mich zu gut.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit. Also, da du es bis jetzt so sorgfältig vermieden hast, darf ich wagen zu fragen, wie die
Weitere Kostenlose Bücher