Schleichendes Gift
die er betrachtete, viel kleiner war als ihre. Wenn ein FBI-Profiler sich die verdächtigen Todesfälle der letzten zwei Jahre von weißen Männern zwischen zwanzig und dreißig Jahren ansehen wollte, musste er etwa 11000 Fälle berücksichtigen. Aber in Großbritannien erreichte die Gesamtzahl der Morde im Laufe von zwei Jahren kaum 1600. Wenn man verdächtige Todesfälle dazuzählte, stieg die Zahl etwas, aber nicht stark an. Die Schwierigkeit, der Tony sich gegenübersah, war, die für ihn interessante Zielgruppe klar zu definieren. Bei einer relativ kleinen Zahl von Morden war der Impuls geringer, sie in klar abgegrenzte Kategorien nach Alter, Geschlecht und Rasse einzuordnen. Er hatte einen großen Teil des Tages damit verschwendet, sich Informationen zu verschaffen, die sich als vollkommen irrelevant erwiesen hatten. Der Prozess wurde noch mehr verlangsamt, weil sein Konzentrationsvermögen durch Medikamente und Schmerzmittel zeitweise eingeschränkt war. Es brachte Tony in Verlegenheit, dass er oft plötzlich wieder aufwachte, während der Laptop ohne Bild vor sich hin summte und ihm der Speichel über das Kinn lief.
Als Carol am frühen Abend kam, hatte er seine Suche jedoch auf neun Fälle eingegrenzt. Er hatte seine Sache noch besser machen wollen, um ihr etwas zeigen und ihr beweisen zu können, dass noch auf ihn zu zählen war. Aber es war klar, dass man das noch nicht konnte. So beschloss er, nichts von seiner Suche zu berichten.
Er fand, sie sah angespannt aus, während er beobachtete, wie sie aus dem Mantel schlüpfte und den Stuhl an sein Bett heranzog. Ihre Lider waren schwer, und Falten in den Augenwinkeln ließen die Anstrengungen erkennen, die sie hinter sich hatte. Ihr Mund war schmal, und sie wirkte dadurch niedergeschlagen. Er kannte sie so gut, dass er ihr ansah, wie sie sich zusammennahm und seinetwegen lächelte. »Also, wie ist es heute gegangen?«, fragte sie. »Sieht von hier aus ganz anders aus.« Sie wies mit einer Kopfbewegung auf die Umrisse unter der Decke.
»Es war ein außergewöhnlicher Tag. Sie haben die Drainage entfernt, was ehrlich gesagt bis jetzt die schmerzhafteste Erfahrung meines Lebens war. Danach war das Abnehmen der Schiene ein Kinderspiel.« Er lächelte sarkastisch. »Eigentlich ist das eine Untertreibung. Auch die Entfernung der Schiene war kein Zuckerschlecken. Aber alles ist relativ. Und jetzt habe ich eine Stützschiene, die das Gelenk stabilisiert.« Er zeigte auf die Erhöhung unter der Decke. »Anscheinend heilt die Wunde gut. Sie haben mich geröntgt, und der Knochen sieht auch ziemlich gut aus. Morgen werden dann die Sadisten von der Physiotherapie auf mich losgelassen, um zu sehen, ob ich aufstehen kann.«
»Das ist ja großartig«, freute sich Carol. »Wer hätte gedacht, dass du so bald wieder auf den Beinen sein würdest?«
»He, übertreib’s mal nicht. Aufstehen heißt, ein bisschen mit einem Gehwagen herumhumpeln, kein Marathonlauf. Es wird noch ein langer Weg sein, bis ich wieder meine alte Form erreicht habe.«
Carol lachte. »Du klingst, als wärst du Paula Radcliffe. Komm, Tony, du warst ja wohl kaum jemals der Wanderbursche von Bradfield.«
»Vielleicht nicht. Aber ich war in Spitzenform«, erwiderte er und machte mit dem Oberkörper sportliche Bewegungen.
»Und die wird auch wiederkommen«, sagte Carol sanft. »Ein ganz guter Tag also.«
»Mehr oder weniger. Meine Mutter kam vorbei, und das nimmt jedem Zeitabschnitt von vierundzwanzig Stunden allen Glanz. Anscheinend gehört mir die Hälfte vom Haus meiner Großmutter.«
»Du hast zusätzlich zu einer Mutter auch eine Oma, von der ich nichts weiß?«
»Nein, nein. Meine Großmutter ist vor dreiundzwanzig Jahren gestorben. Als ich noch studierte. Ein halbes Haus wäre damals nicht unpraktisch gewesen. Ich war immer knapp bei Kasse«, erklärte er etwas vage.
»Ich glaube, da komm ich nicht mit«, meinte Carol.
»Ich kam da wohl auch nicht mit, nicht ganz. Ich glaube, ich stehe immer noch etwas unter der Wirkung des Morphiums. Aber ich verstehe das, was meine Mutter gesagt hat, so, dass ihre Mutter mir bei ihrem Tod die Hälfte ihres Hauses vererbte. Das scheint meiner Mutter entfallen zu sein. Das Haus ist die letzten dreiundzwanzig Jahre vermietet gewesen, aber meine Mutter meint, es sei an der Zeit, es zu verkaufen, und braucht meine Unterschrift auf den Unterlagen. Ob ich jemals einen Penny vom Erlös sehen werde, ist natürlich eine andere Sache.«
Carol starrte ihn ungläubig
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