Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen
ausschütten,« fügte Ortheris träumerisch hinzu. »Willste 'nem armen Papageien das Schreien verbieten, Mulvaney, wenn es heiß is un' der Käfig ihm seine armen, kleinen rosa Zehen verbrennt?«
»Rosa Zehen! Willste damit sagen, daß Du unter John Bull's Militärsocken rosa Zehen hast? Du verpimpelte« – Mulvaney raffte alle Kraft für eine ungeheuerliche Beschimpfung zusammen – »versimpelte Schulmamsell, Du! Rosa Zehen! Wieviel echtes Bertoner Bier mit der Marke drauf hat das verrückte Baby eigentlich gesoffen?«
»'S is gar nich' das Bertoner,« erwiderte Ortheris. »'S is ein bittereres Bier als das. 'S iss das Heimweh!«
»Nun hör einer das an! Wo er in den nächsten vier Monaten mit der »Serapis« zurücktransportiert werden soll!«
»Was frag ich 'n schon danach? Mir is doch alles eins! Weißte denn, ob ich nich Bammel habe, abzuschrammen, eh ich meine Papiere bekomme?« Und er hub von neuem an, im Singsang das Begräbnisreglement zu rezitieren.
Diese Seite von Ortheris Charakter war mir vollständig neu, aber Mulvaney schien sie offensichtlich schon zu kennen und ihr ernsthafte Bedeutung beizumessen. Während Ortheris, Kopf in den Händen begraben, weiterlallte, flüsterte Mulvaney mir zu:
»'s packt ihn immer, wenn die Säuglinge, die sie heutzutage zu Unteroffizieren machen, ihn ganz besonders gezwiebelt haben. Weil se nischt Besseres anzufangen wissen. Ich kann 's nich verstehn.«
»Na, was schadet es denn? Lassen Sie ihn sich doch aussprechen.«
Jetzt stimmte Ortheris die Parodie auf ein bekanntes Soldatenlied an, die nur von Krieg, Totschlag und Moritaten handelte. Er starrte dabei über den Fluß, und sein Gesicht war mir ganz fremd geworden. Mulvaney packte mich am Ellbogen, um meine Aufmerksamkeit zu erzwingen.
»Schaden? Und ob es schadet! 's is so 'ne Art Anfall. Ich kenn 's. 's wird noch die ganze Nacht so weitergehen, un' mitten drin wird er aufstehen un' im Schrank nach seinen Sachen suchen. Un' dann kommt er zu mir un' sagt: ›Ich geh jetzt nach Bombay. Antworte morgen beim Appell für mich.‹ Un' dann hauen wir beide uns, wie wir 's schon öfters getan haben – er, um wegzukommen, un' ich, um ihn zu halten – un' so werden wir beide wegen Unruhe in der Kaserne aufgeschrieben. Ich hab ihn mit dem Riemen verhauen un' hab ihm eins über 'n Detz gegeben, un' ich hab ihm gut zugeredet – aber alles nützt nischt, wenn er denAnfall hat. Er is 'n guter Junge, wie 's bald keinen zweiten gibt, wenn er klar is. Aber ich weiß, was heute nacht in der Kaserne alles passieren wird. Der liebe Gott verhüte, daß er mir nich abschrammt, wenn ich aufstehe, um ihm eins über 'n Detz zu geben. Egal muß ich daran denken, Tag und Nacht.«
Das rückte die Sache in ein weit weniger harmloses Licht und bot für Mulvaneys Besorgnis eine völlig ausreichende Erklärung. Im Augenblick schien er Ortheris durch allerlei Überredungskünste seinem Anfall entreißen zu wollen, denn er brüllte nach der Böschung hinüber, auf der Ortheris ausgestreckt lag:
»Paß emal auf, Du mit den ›armen, rosa Zehen‹ un' den Glasaugen. Biste nu' des nachts hinter mir her über den Irriwaddy geschwommen, wie 's sich für 'nen braven Kerl schickt, oder haste Dich unter 's Bett verkrochen, wie damals bei Ahmid Kheyl?«
Das war eine grobe Beleidigung und eine ausgesprochene Lüge, aber Mulvaney wollte seinen Freund jetzt schon zu Handgreiflichkeiten treiben. Allein Ortheris schien in eine Art Trance versunken. Langsam und ohne Zeichen von Arger antwortete er in dem gleichen Singsang, in dem er das Begräbnisreglement zitiert hatte:
»Ich bin des nachts über den Irriwaddy geschwommen, wie Du genau weißt, um ganz nackt un' ohne Furcht die Stadt Lungtungpen zu nehmen. Un' wo ich bei Ahmid Kheyl gesteckt habe, weißt Du auch ganz genau, und vier verdammte Afghanen wissen 's obendrein. Aber da gab 's auch was zu tun; da dachte ich nich' an 's Sterben. Aber jetzt will ich nach Hause zurück – nach Hause, nach Hause. Nee, ich hab nich Heimweh nach meiner Mama, weil mich nämlich mein Onkel erzogen hat, aber ich hab Heimweh nach London – Heimweh nach den Gerüchen un' nach allden Ansichten un' nach dem Gestank von der ollen Stadt: nach den Apfelsinenschalen un' nach dem Asphalt un' nach den Gaslaternen, wenn man über die Vauxhall-Brücke geht. Heimweh nach der Eisenbahn un' nach 'nem Ausflug nach Box-Hill, mit 'ner neuen Pfeife im Maul un' 'nem Mädel auf 'm Schoß. Danach hab ich Heimweh un' nach den
Weitere Kostenlose Bücher