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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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Licht.
    Das Brummen des Staubsaugers drang nun aus einem Zimmer weiter vorn. Schnell schlug Gurney den Weg in die entgegengesetzte Richtung ein, zurück zur Treppe. Die Fahrt mit dem Aufzug am Mittag hatte nur kurz gedauert, Salon und Speisesaal lagen also höchstwahrscheinlich im ersten Stock. In der Hoffnung, dort auf etwas zu stoßen, was seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen würde, lief er die Stufen hinunter.
    Wie in der zweiten Etage gelangte er durch einen Bogendurchgang zu den Fluren. Kurz darauf betrat er den viktorianischen Salon, in dem er sich mit Jykynstyl getroffen hatte. Auch hier brannten alle Lichter und hatten eine ähnlich ernüchternde Wirkung wie auch sonst im Haus. Selbst die riesigen Topfpflanzen hatten ihre Pracht verloren. Er strebte in den Speisesaal. Geschirr, Gläser, Besteck – alles war weggeschafft worden. Das Holbein-Bild ebenfalls. Oder die Holbein-Kopie.
    Gurney wurde klar, dass er überhaupt nichts Sicheres über seinen Mittagsbesuch hier wusste. Am besten ging er davon aus, dass jedes Detail daran vorgespiegelt war. Vor allem das überzogene Angebot für seine Verbrecherporträts. Die Vorstellung, dass alles nur Schwindel und die Aussicht auf Geld genauso trügerisch gewesen war wie die Bewunderung für seine Fähigkeiten und seine Einfühlung, versetzte seinem Ego einen überraschend harten Schlag. Verlegen musste er einsehen, wie viel ihm die Offerte und die damit verbundenen Schmeicheleien bedeutet hatten.
    Er erinnerte sich daran, was ihm einmal ein Therapeut erklärt hatte: Wie sehr man an einer Sache hängt, erkennt man an der Stärke des Schmerzes, wenn sie einem weggenommen wird. Anscheinend waren ihm die potenziellen Vorteile der Jykynstyl-Fantasie genauso wichtig gewesen wie … wie die Überzeugung, dass sie ihm völlig unwichtig waren. Er kam sich vor wie ein doppelter Idiot.
    Sein Blick wanderte durch den Speisesaal. Die ekstatische Vision einer Segelbootfahrt im Puget Sound stieß ihm sauer auf wie Essig. Er inspizierte die blank polierte Tischplatte. Nicht die Spur eines Flecks oder Fingerabdrucks. Er ging zurück in den Salon. Ein schwacher, komplexer Geruch hing in der Luft, der ihm schon vorher beim Eintreten aufgefallen war. Er versuchte, die Bestandteile zu identifizieren. Alkohol, abgestandener Rauch, Asche im Kamin, Leder, feuchte Pflanzenerde, Möbelpolitur, altes Holz. Nichts Überraschendes, nichts Störendes.
    Er seufzte frustriert. Offenbar hatte er ganz umsonst das Risiko auf sich genommen, sich ins Haus zu stehlen. Alles hier strahlte eine feindselige Leere aus, und nichts sprach dafür, dass hier jemand wohnte. Das passte ja auch zu dem von Jykynstyl beschriebenen Wanderleben, und wo sich die »Töchter« aufhielten, war völlig unklar.
    Das Staubsaugergeräusch einen Stock höher wurde lauter. Nach einem letzten Blick durch den Raum steuerte er auf die Treppe zu. Auf halbem Weg zum Erdgeschoss ließ ihn plötzlich eine lebhafte Erinnerung erstarren.
    Der Geruch von Alkohol.
    Das Likörgläschen.
    Verdammt!
    Hastig stürmte er wieder hinauf in den Salon, hinüber zu dem wuchtigen Ledersessel, in dem ihn Jykynstyl empfangen hatte, dem Sessel, aus dem sich der scheinbar gebrechliche Mann so mühsam erhoben hatte, dass er sich mit beiden Händen aufstützen musste. Und weil kein Tisch in der Nähe war, auf dem er sein Absinthglas hätte abstellen können …
    Gurney griff zwischen die Blätter der dichten tropischen Pflanze. Da war es – verdeckt vom hohen Rand des Topfs und dem dunkel herabhängenden Laub. Vorsichtig wickelte er es in ein Taschentuch und steckte es in die Tasche.
    Erst als er eine Minute später im Auto saß, fragte er sich, was er damit machen sollte.

45
Ein neugieriger Hund
    Beim Gedanken an die nur wenige Blocks entfernte Polizeidienststelle des 19. Bezirks an der East 67th Street zog an Gurneys innerem Auge unwillkürlich eine Liste von Kontaktleuten vorbei, die er dort hatte. Er kannte mindestens fünf Detectives in dem Revier, zwei davon so gut, dass er sie möglicherweise um einen heiklen Gefallen bitten konnte. Denn die Fingerabdrücke von dem gestohlenen Likörglas zu sichern und sie ohne die vorgeschriebene Zuordnung einer Fallnummer durch die FBI -Datenbank laufen zu lassen, war definitiv eine heikle Sache. Er war nicht scharf darauf, sein Interesse an seinem Gastgeber zu erklären, und er durfte sich auch keine Lüge ausdenken, die ihn vielleicht später in Bedrängnis brachte.
    Nein, er musste eine andere Lösung

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