Schließe deine Augen
vorgehen sollte, doch allein, dass er überhaupt etwas tat, beruhigte ihn. Ihm fiel ein, dass er Jykynstyls Telefonnummer in der Brieftasche hatte – Sonya hatte sie ihm gegeben für den Fall, dass er in einen Stau geriet. Ohne lang zu überlegen, was er sagen sollte, gab er die Nummer ein. Vielleicht etwas wie: »Wahnsinnsparty, Jay! Haben Sie Fotos?« Oder mehr in Hardwicks Manier: »Hey, Arschgesicht, wenn du dich mit mir anlegst, kriegst du eine Kugel zwischen deine Scheißaugen.« Letztlich konnte er überhaupt nichts davon anbringen, da ihm eine Tonbandstimme erklärte, dass kein Anschluss unter dieser Nummer bestand.
Es drängte ihn, an die Tür zu klopfen, bis jemand öffnete. Dann erinnerte er sich an Jykynstyls Bemerkung, dass er immer in Bewegung war, dass er nirgends lange blieb. Bestimmt war das Sandsteinhaus leer und der Mann längst verschwunden. Klopfen war völlig sinnlos.
Eigentlich musste er Madeleine verständigen, dass es spät werden würde. Aber wie spät genau? Sollte er ihr von seiner Amnesie erzählen? Davon, dass er gegenüber von seiner alten Highschool aufgewacht war? Von der Drohung mit irgendwelchen Fotos? Oder würde er sie damit nur grundlos zu Tode ängstigen?
Vielleicht sollte er lieber zuerst Sonya anrufen, um zu erfahren, ob sie etwas Erhellendes zu der ganzen Angelegenheit sagen konnte. Wie viel wusste sie über diesen Jay Jykynstyl? War das Angebot von hunderttausend Dollar überhaupt ernst gemeint gewesen? Oder handelte es sich nur um eine List, um ihn zu einem privaten Mittagessen in die Stadt zu locken? Um ihn unter Drogen setzen zu können und … und was?
Sollte er sich vielleicht besser in einer Notaufnahme untersuchen lassen, um herauszufinden, welche Chemikalien er eingenommen hatte, bevor sie sich völlig auflösten? Damit hätte er wenigstens einen handfesten Beweis statt vager Verdachtsmomente. Allerdings musste er bei einem offiziellen Drogentest mit Fragen und Komplikationen rechnen. Ein klassisches Dilemma: Er wollte herausfinden, was passiert war, bevor er offizielle Maßnahmen ergriff, um herauszufinden, was passiert war.
Während er immer mehr in einem Sumpf aus Unentschlossenheit versank, bremste direkt vor dem Sandsteinhaus ein großer weißer Lieferwagen. Vorbeigleitende Scheinwerfer ließen den grünen Schriftzug einer Reinigungsfirma erkennen: WHITE STAR COMMERCIAL CLEANING .
Gurney hörte, wie sich auf der anderen Seite des Wagens eine Schiebetür öffnete. Dann folgte ein kurzer Wortwechsel auf Spanisch, und die Tür schloss sich wieder. Der Lieferwagen entfernte sich und ließ im Halbdunkel des Hauseingangs einen Mann und eine Frau in schäbiger Uniform zurück.
Der Mann schloss mit einem Schlüssel auf, der an seinem Gürtel hing. Sie betraten das Gebäude, und kurz darauf ging im Foyer das Licht an. Wenig später wurde es auch hinter einem Fenster im Erdgeschoss hell. Danach folgten in zweiminütigen Abständen Lichter in allen Fenstern des dreistöckigen Gebäudes.
Gurney beschloss, sich irgendwie hineinzumogeln. Er sah aus wie ein Cop, klang wie ein Cop, und seine Mitgliedskarte vom Verband pensionierter Polizeibeamter war leicht mit dem Ausweis eines Aktiven zu verwechseln.
Als er zur Haustür kam, stellte er fest, dass sie noch offen war. Er trat ins Vestibül und lauschte. Keine Schritte, keine Stimmen. Er probierte es mit der Tür zum Foyer. Sie war unverschlossen. Nachdem er aufgemacht hatte, lauschte er erneut. Nur das gedämpfte Summen eines Staubsaugers aus einer der oberen Etagen war zu vernehmen. Schnell schlüpfte er hinein und zog sanft die Tür hinter sich zu.
Die Reinigungskräfte hatten alle Lampen eingeschaltet, und das große Foyer erschien ihm kälter und nackter, als er es in Erinnerung hatte. Das grelle Licht nahm der Mahagonitreppe, dem auffallendsten Merkmal des Raums, viel von ihrer Vornehmheit. Auch die holzgetäfelten Wände wirkten auf einmal billiger, als hätte ihnen der ungeschminkte Schein die antike Patina geraubt.
An der hinteren Wand waren zwei Türen. Eine davon führte zu dem kleinen Aufzug, in dem ihn Jykynstyls Tochter hinaufbegleitet hatte – falls sie überhaupt seine Tochter war, was er inzwischen bezweifelte. Die Tür daneben war angelehnt und das Zimmer dahinter genauso hell erleuchtet wie das Foyer.
In einer Immobilienanzeige hätte man vielleicht von einem Medienraum gesprochen. Er wurde von einem großen Flachbildschirm beherrscht, um den in verschiedenen Winkeln ein halbes Dutzend Lehnsessel
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