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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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Trugschluss?« Die Frage kam aus mehreren Richtungen gleichzeitig.
    »Der Heureka-Trugschluss. Ein griechisches Wort, das sich für unsere Zwecke ungefähr mit ›Ich habe die Wahrheit entdeckt.‹ übersetzen lässt. Entscheidend ist …« Gurney legte eine Pause ein, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. » Geschichten, die einem die Leute über sich erzählen, beinhalten immer die Möglichkeit, dass sie falsch sind. Aber was man selbst über sie rausfindet, erscheint als die Wahrheit. Anders ausgedrückt: Geben Sie der Zielperson Gelegenheit, etwas über Sie rauszufinden. Dann hat der Betreffende das Gefühl, Sie wirklich zu kennen. Ab da haben Sie sein Vertrauen gewonnen. Ein Vertrauen, das alles andere möglich macht. Den Rest des Tages wollen wir uns damit befassen, wie sich das realisieren lässt. Wie man jemanden dazu bringt, genau das an einem zu entdecken, was man ihm suggerieren will. Doch jetzt machen wir erst mal eine Pause.«
    Gurney fiel ein, dass er in einer Zeit groß geworden war, in der man unter Pause automatisch eine Zigarettenpause verstand. Mittlerweile war es für praktisch jeden eine Handy- oder SMS -Pause. Wie zur Veranschaulichung seines Gedankens griffen die meisten Beamten zu ihren Blackberrys, bevor sie auf die Tür zusteuerten.
    Gurney atmete tief durch, streckte die Arme nach oben und dehnte den Rücken langsam von einer Seite zur anderen. Im ersten Block des Seminars hatten sich seine Muskeln stärker verspannt, als er es vermutet hätte.
    Die Lateinamerikanerin wartete, bis der Strom der Handytelefonierer an ihr vorübergezogen war, und trat auf Gurney zu, als er das Video aus dem Player nahm. Das volle Haar umrahmte ihr Gesicht in einem Gewirr aus sanften Locken. Ihre üppige Figur steckte in einer knappen schwarzen Jeans und einem engen grauen Pulli mit tiefem Ausschnitt. Ihre Lippen glänzten feucht. »Ich wollte mich nur bedanken.« Ihre Miene wirkte ernst. »Das war wirklich gut.«
    »Das Band, meinen Sie?«
    »Nein, ich meine Sie. Ich meine … also …« Sie errötete. »Ihr gesamter Ansatz, die Erklärung, warum Leute was glauben, warum sie von bestimmten Sachen stärker überzeugt sind, das alles. Zum Beispiel der Heureka-Trugschluss, das war ein echter Denkanstoß. Die Präsentation war wirklich gut.«
    »Sie haben mit Ihren Bemerkungen einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet.«
    Sie lächelte. »Wahrscheinlich haben wir einfach die gleiche Wellenlänge.«

6
Zu Hause
    Gegen Ende seiner zweistündigen Fahrt von der Akademie in Albany zu seinem Farmhaus in Walnut Crossing drang bereits heimlich die Abenddämmerung in die gewundenen Täler der westlichen Catskills vor.
    Als er von der Landstraße auf den drei Kilometer langen Schotterweg zu seinem Grundstück auf der Hügelkuppe bog, war das aufgekratzte Gefühl, das er sich mit zwei großen Bechern starkem Kaffee in der Nachmittagspause des Seminars verschafft hatte, heftig ins Gegenteil umgeschlagen. Der verblassende Tag erzeugte ein überreiztes Bild, das er auf den Koffeinentzug schob: Der Sommer trat wie ein alternder Schauspieler von der Bühne ab, während hinter den Kulissen bereits der Herbst als Totengräber wartete.
    Verdammt, mein Hirn ist nur noch Mus.
    Wie üblich parkte er den Wagen parallel zum Haus auf dem abgenutzten Grasflecken am Ende der Wiese. Über dem fernen Hügelkamm hingen von der sinkenden Sonne dunkelrosa und violett angestrahlte Wolkenschwaden.
    Er betrat das Haus durch die Seitentür und streifte in dem Zimmer, das als Wäsche- und Vorratskammer diente, die Schuhe ab, bevor er seinen Weg in die Küche fortsetzte. Madeleine kniete vor der Spüle und kehrte die Scherben eines zerbrochenen Weinglases auf eine Schaufel.
    Erst nach einigen Sekunden redete er sie an. »Was ist passiert?«
    »Wonach sieht es aus?«
    Wieder ließ er mehrere Sekunden verstreichen. »Wie läuft’s in der Klinik?«
    »Ganz gut.« Mit einem tapferen Lächeln stand sie auf und leerte die Schaufel geräuschvoll in die bauchige Plastikmülltonne in der Vorratskammer. Er spähte durch die Terrassentür hinaus auf die monochrome Landschaft, auf den großen Haufen Holzklötze neben dem Schuppen, der darauf wartete, gehackt und aufgeschichtet zu werden, auf das nach dem Turnus der Jahreszeiten noch ein letztes Mal zu mähende Gras, auf das Spargelkraut, das vor dem Winter abgeschnitten und verbrannt werden musste, um die Spargelkäfer zu bannen.
    Madeleine kam wieder in die Küche, schaltete die in der Decke eingepassten

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