Schließe deine Augen
Ahnung, wie das passiert sein könnte?«
Wie betäubt öffnete Ashton den Mund. Erst nach mehreren vergeblichen Anläufen brachte er wieder ein Wort hervor. »Nun … ja, irgendwie schon … Zumindest theoretisch. Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, war Jillian wegen einer bipolaren Störung in Behandlung. Sie hat Medikamente genommen, für die regelmäßige Bluttests notwendig waren, um die gewünschte Wirkung sicherzustellen. Ihr wurde einmal im Monat Blut abgenommen.«
»Wer war dafür zuständig?«
»Eine Phlebologin aus der Gegend. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie für einen medizinischen Dienst in Cooperstown gearbeitet.«
»Und was hat sie mit der Blutprobe gemacht?«
»Sie hat sie ins Labor gebracht, wo der Lithiumpegel gemessen und der Bericht erstellt wurde.«
»Hat sie es sofort hingebracht?«
»Ich denke, sie hat die Runde bei allen Patienten gemacht und die Proben dann am Ende des Tags im Labor abgeliefert.«
»Haben Sie den Namen der Ärztin – auch die des medizinischen Dienstes und des Labors?«
»Ja. Den Laborbericht schaue ich mir jeden Monat an – oder besser gesagt, ich habe ihn mir angeschaut.«
»Haben Sie zufällig Aufzeichnungen darüber, wann die letzte Blutprobe genommen wurde?«
»Aufzeichnungen existieren nicht, aber es war immer der zweite Freitag im Monat.«
Gurney überlegte kurz. »Also zuletzt zwei Tage vor Jillians Ermordung.«
»Sie meinen, Flores hat sich irgendwie ihr Blut beschafft? Aber warum? Ich fürchte, ich begreife nicht ganz, worauf Sie mit der Machete hinauswollen. Was hätte das denn für einen Zweck gehabt?«
»Ich bin mir nicht sicher, Doktor. Aber ich habe das Gefühl, dass die Antwort auf diese Frage der fehlende Mosaikstein zur Lösung des Falls ist.«
Mehr verblüfft als skeptisch zog Ashton die Brauen hoch. Sein Blick schien über die verstörenden Stellen einer inneren Landschaft zu wandern. Schließlich schloss er die Augen und setzte sich auf seinem hohen Stuhl zurück. Seine Hände umfassten die Enden der reich geschnitzten Armlehnen, und der Atem ging tief und bedächtig wie bei einer beruhigenden mentalen Übung. Doch als er sie wieder aufschlug, wirkte er noch mitgenommener.
»Was für ein Albtraum.« Als er sich räusperte, klang es fast wie ein Wimmern. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Gentlemen? Haben Sie sich schon mal wie ein totaler Versager gefühlt? So fühle ich mich nämlich im Moment. Jede neue Schreckensmeldung … jeder Tod … jede Entdeckung über Flores oder Skard, oder wie er heißt … jede bizarre Enthüllung über die wahren Ereignisse hier an der Schule … alles beweist mein völliges Versagen. Wie konnte ich nur so verblendet sein!« Er schüttelte den Kopf, oder bewegte ihn vielmehr langsam hin und her wie in Zeitlupe. »Dieser alberne, verhängnisvolle Hochmut. Zu glauben, dass ich eine Seuche von derart unglaublicher, urtümlicher Kraft heilen kann.«
»Seuche?«
»Nicht der Begriff, den meine Fachkollegen üblicherweise für Inzest und dessen Folgeschäden verwenden, aber ich finde ihn sehr treffend. Je länger ich auf diesem Gebiet arbeite, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, dass von allen Verbrechen, die Menschen aneinander begehen, das mit Abstand zerstörerischste der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Erwachsene ist – vor allem durch die eigenen Eltern.«
»Was bringt Sie zu dieser Einschätzung?«
»Was? Ganz einfach. Die zwei grundlegenden menschlichen Beziehungsarten sind Partnerwahl und Elternschaft. Inzest hebt diesen Unterschied auf, sie wirft diese zwei Beziehungsarten durcheinander und vergiftet sie dadurch beide. Das führt zu einer traumatischen Schädigung der neuronalen Strukturen, die die natürlicherweise mit den jeweiligen Beziehungsformen verbundenen Verhaltensweisen stützen und sie voneinander getrennt halten. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich glaube schon«, erwiderte Gurney.
»Ein bisschen zu hoch für mich.« Hardwick hatte den langen Gedankenaustausch zwischen Ashton und Gurney bis jetzt stumm verfolgt.
Der Psychiater warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Die Therapie eines solchen Traumas kann nur wirken, wenn sie die Grenzen zwischen dem Verhaltensrepertoire von Eltern und Kind und dem Verhaltensrepertoire bei der Partnerwahl wieder aufrichtet. Das Tragische daran ist, dass keine Therapie die schiere Wucht des Vergehens aufwiegen kann, das sie beheben möchte. Es ist wie der Versuch, mit einem Teelöffel eine Mauer wiederaufzubauen, die von einer
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