Schließe deine Augen
Planierraupe niedergerissen wurde.«
»Aber … haben Sie sich nicht dafür entschieden, dieses Problem in den Mittelpunkt Ihrer beruflichen Tätigkeit zu stellen?«, fragte Gurney.
»Sicher. Und jetzt steht eindeutig fest, dass ich gescheitert bin. Kläglich gescheitert.«
»Das wissen Sie doch gar nicht.«
»Sie meinen, nicht jede Mapleshade-Absolventin hat beschlossen, in einer perversen Sexunterwelt zu verschwinden? Nicht jede wurde zum Vergnügen abgeschlachtet? Nicht jede hat Kinder bekommen, um sie dann zu vergewaltigen? Nicht jede war bei ihrem Abschied so krank und gestört wie bei ihrer Ankunft? Aber wie kann ich das wissen? In diesem Moment weiß ich nur eins mit Sicherheit: Mapleshade hat sich – geprägt von meinen Vorstellungen und Entscheidungen – in einen Magneten für Grauen und Mord verwandelt, in ein Jagdrevier für ein Monster. Unter meiner Leitung ist Mapleshade völlig zerstört worden. Das weiß ich jetzt.«
»Und was nun?«, fragte Hardwick.
»Was nun? Ah. Die Stimme der praktischen Vernunft.« Ashton schloss die Augen und blieb mindestens eine Minute lang still. Dann schlug er einen bemüht normalen Ton an. »Was nun? Der nächste Schritt? Für mich ist der nächste Schritt, dass ich hinunter in die Kapelle gehe und mich zeige, um unsere Schülerinnen zu beruhigen, so gut es möglich ist. Was Ihr nächster Schritt ist … ich habe keine Ahnung. Sie sagen, ein Bauchgefühl hat Sie hergeführt. Dann fragen Sie lieber Ihren Bauch, was als Nächstes kommt.«
Er erhob sich aus seinem massiven Samtstuhl und nahm etwas aus der Schreibtischschublade, das wie ein Garagentoröffner aussah. »Die Lichter und Schlösser unten funktionieren elektronisch«, sagte er zur Erklärung des Geräts. Er setzte sich in Bewegung und gelangte bis zur Tür, dann kehrte er noch einmal um und schaltete den Computermonitor hinter dem Schreibtisch an. Ein Bild erschien: der Hauptraum der Kapelle mit Steinboden und Steinmauern, deren farblose Kargheit hier und da von burgunderfarbenen Tüchern und Gobelins unterbrochen wurde. Die dunklen Holzbänke waren nicht in kirchentypischen Reihen angeordnet, sondern zu einem halben Dutzend Gruppen mit je drei einander zugewandten Bänken, wohl um eine Unterhaltung zu fördern. Überall saßen Jugendliche. Aus den Lautsprechern drang ein Gewirr weiblicher Stimmen.
»Unten haben wir eine hochauflösende Kamera und ein Mikrofon, die alles zum Computer übertragen«, bemerkte Ashton. »Schauen Sie zu, hören Sie zu, dann bekommen Sie vielleicht ein Gespür für die Situation.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.
75
Schließ die Augen
Der Bildschirm zeigte, wie Scott Ashton durch die rückwärtige Tür hinter den Bankgruppen eintrat und sie mit einem dumpfen Schlag schloss. In einer Hand hielt er die kleine Fernbedienung. Die Mädchen hatten fast alle Plätze auf den Bänken besetzt – einige saßen normal, einige seitlich, einige in Yogahaltung mit überschlagenen Beinen, einige knieten. Manche schienen in Gedanken versunken, doch die meisten unterhielten sich angeregt, die einen lauter, die anderen leiser.
Das Überraschende für Gurney war, wie normal alle wirkten. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie die meisten anderen, mit sich beschäftigten weiblichen Teenager auch, und nicht wie die Insassinnen einer mit Stacheldraht abgezäunten Erziehungsanstalt. Die Kamera fing nichts von der Bösartigkeit des Verhaltens ein, das sie hierher gebracht hatte. Wahrscheinlich konnte man erst bei einem genaueren Blick in ihr Gesicht erkennen, dass in diesen Schülerinnen mehr Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit und Sexbesessenheit schlummerte als in gewöhnlichen jungen Frauen. Letztlich war es wie bei Gurneys Mörderporträts: das Bedrohliche, das Eisige lauerte in den Augen.
Dann erst fiel ihm auf, dass die Schülerinnen nicht allein waren. In jedem der Bankdreiecke befanden sich auch ein oder zwei ältere Personen – die wahrscheinlich unter einer Bezeichnung wie Lehrerin oder Beraterin für die Betreuung und Therapie in Mapleshade zuständig waren. Ganz hinten in einem Winkel stand fast unsichtbar im Schatten Dr. Lazarus mit verschränkten Armen und undurchdringlicher Miene.
Als die Mädchen Ashton bemerkten, sank der Geräuschpegel allmählich. Eine etwas ältere, attraktive Schülerin trat auf den Psychiater zu, der am Ende des Mittelgangs wartete. Sie war groß, blond und mandeläugig.
Gurney beobachtete, wie sich Hardwick nach vorn beugte, um das
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