Schließe deine Augen
Gerücht gehört, dass Hector Flores heute gesehen wurde, hier in der Kapelle. Stimmt das?«
Ashton wirkte ungewöhnlich betroffen. »Was …? Wo haben Sie das her?«
»Ich weiß nicht. Im Haupthaus haben sich auf der Treppe Leute unterhalten – bin mir nicht sicher, wer es war. Ich konnte sie von meinem Platz aus nicht erkennen. Aber eine hat gesagt, dass sie ihn gesehen hat – dass sie Hector gesehen hat. Das macht mir Angst.«
»Wenn es stimmt, wäre das tatsächlich ein Grund zur Angst«, entgegnete Ashton. »Vielleicht kann uns die Schülerin, die meint, ihn gesehen zu haben, mehr darüber erzählen. Schließlich sind wir alle hier. Wer immer das gesagt hat, muss auch hier sein.« In erwartungsvollem Schweigen betrachtete er die Versammlung und ließ lange fünf Sekunden verstreichen, eher er nachsichtig hinzufügte: »Vielleicht macht es manchen Leuten Spaß, furchterregende Gerüchte zu verbreiten.« Dennoch klang er nicht völlig gelassen. »Sonst noch Fragen?«
Eine der jüngeren Schülerinnen hob die Hand. »Wie lang müssen wir noch hier in der Kapelle bleiben?«
Ashton lächelte wie ein liebevoller Vater. »Solange es uns hilft und keine Minute länger. Ich hoffe, dass Sie sich in allen Gruppen über Ihre Gedanken, Sorgen und Gefühle austauschen – vor allem über die Befürchtungen, die Savannahs Tod natürlich ausgelöst hat. Ich möchte, dass Sie sich rückhaltlos aussprechen und die Hilfe in Anspruch nehmen, die Ihnen Ihre Betreuerinnen und Mitschülerinnen bieten können. Dieser Prozess funktioniert. Das wissen wir alle. Vertrauen Sie darauf.«
Ashton verließ das Podium und wanderte durch den Raum, um den Gruppengesprächen auf den Bänken zuzuhören und hier und da ein ermutigendes Wort einzuwerfen. Manchmal schien er aufmerksam zu lauschen, dann wieder in die eigenen Gedanken zu versinken.
Je länger Gurney das Ganze beobachtete, desto stärker fiel ihm wieder das Merkwürdige der Szenerie auf. Auch wenn es säkularisiert war, das Gebäude sah aus, klang, roch und fühlte sich an wie eine Kirche. Ein beunruhigender Gegensatz zu der wilden, hemmungslosen Energie der derzeitigen Mapleshade-Bewohnerinnen und den unwägbaren Möglichkeiten eines komplexen Mordfalls.
Inzwischen setzte Ashton seine gemächliche Runde zwischen den Schülerinnen und Betreuerinnen fort, doch Gurney achtete nicht mehr darauf.
Mit geschlossenen Augen drückte er den Kopf an die samtige Rückenlehne des Stuhls. Er konzentrierte sich ganz auf das Gefühl des Atems, der durch die Nase ein- und ausströmte. So gut es ging, löste er sich von dem unüberschaubaren Wirrwarr in seinem Geist. Fast wäre es ihm gelungen, doch eine kleine Sache wollte nicht verschwinden.
Eine kleine Sache.
Eine Bemerkung von Hardwick, die unbewusst an ihm genagt hatte. Es war die Antwort auf Gurneys Frage, ob er erkennen konnte, was Ashton zu der Blondine sagte, die nach seiner Ankunft in der Kapelle zu ihm getreten war.
Hardwick hatte erwidert, dass Ashtons Worte im allgemeinen Stimmengewirr in der Kapelle nicht zu verstehen waren.
Er kann alles Mögliche zu ihr gesagt haben.
Diese Worte hatten Gurney nicht losgelassen.
Und jetzt kannte er den Grund.
Sie hatten eine Erinnerung ausgelöst, zunächst nur schemenhaft.
Doch jetzt stand sie ihm lebhaft vor Augen.
Ein anderes Mal, an einem anderen Ort. Scott Ashton in ernstem Gespräch mit einer jungen Blondine auf einer ausgedehnten, gepflegten Rasenfläche. Ein Gespräch, das niemand mithören konnte. Ein Gespräch, dessen Worte im Lärm von hundert anderen Stimmen unterging. Ein Gespräch, bei dem Scott Ashton alles Mögliche zu Jillian Perry gesagt haben konnte.
Alles Mögliche. Und damit wurde alles möglich.
Hardwick musterte ihn. »Geht’s dir gut?«
Gurney nickte leicht, als könnte jede heftigere Bewegung die unendlich zarte Kette von Alternativen in seinem Kopf zerreißen.
Er konnte alles Mögliche gesagt haben. Niemand wusste, was er gesagt hatte, denn die Worte waren ungehört verhallt. Was könnte er also gesagt haben?
»Egal, was passiert, gib keine Antwort.«
»Egal, was passiert, mach die Tür nicht auf.«
»Ich hab eine Überraschung für dich, schließ die Augen.«
Gott im Himmel, und wenn er genau das gesagt hatte? »Das wird die größte Überraschung deines Lebens, schließ die Augen.«
76
Noch eine Schicht
»Was ist denn, verdammt?«, knarzte Hardwick.
Gurney schüttelte nur stumm den Kopf, während er der logischen Kette von Möglichkeiten in seinem
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