Schließe deine Augen
war.
»Dann können Sie vielleicht auch den Schaden ermessen, den Sie mit ihrer Ignoranz angerichtet haben.«
»Erklären Sie es mir.« Gurney setzte eine Miene wachsenden Interesses auf, um (besser als mit dem gespielten Gähnen) die aufsteigende Angst zu verbergen.
»Sie verfügen über außerordentliche mentale Gaben. Ein wirklich leistungsfähiges Gehirn zur Berechnung von Vektoren und Wahrscheinlichkeiten.«
Diese Beschreibung stand in krassem Gegensatz zu Gurneys aktueller Einschätzung seiner Fähigkeiten. Mit einem eisigen Schauer fragte er sich, ob Ashton seinen Geisteszustand so genau erfasste, dass er sich einen Witz erlaubt hatte.
Gurney selbst hatte das Gefühl, dass das Gehirn, das ihm seine großen beruflichen Erfolge beschert hatte, deshalb immer mehr an Bodenhaftung und Richtung verlor, weil es zu viele Faktoren auf einmal zusammenfügen musste: der imaginäre Hector, der falsche Jykynstyl, die enthauptete Jillian Perry, die enthauptete Kiki Muller, die enthauptete Melanie Strum, die enthauptete Savannah Liston. Die enthauptete Puppe in Madeleines Nähzimmer.
Wo lag bei all dem das Gravitationszentrum – der Punkt, wo die Kraftlinien zusammenliefen? Hier in Mapleshade? Oder in dem Sandsteinhaus, wo Steck mit seinen »Töchtern« residierte? Oder in einem dunklen sardischen Café, wo Giotto Skard vielleicht gerade in diesem Augenblick bitteren Espresso schlürfte – eine lauernde, runzlige Spinne im Mittelpunkt ihres Netzes, wo sich alle Fäden seiner Unternehmungen trafen?
Haushoch türmten sich die unbeantworteten Fragen.
Und dazu noch eine sehr persönliche: Warum hatte er nicht an die Möglichkeit gedacht, dass er abgehört wurde?
Eigentlich hatte er die Idee von der »Todessehnsucht« immer für eine oberflächliche, platte Vorstellung gehalten, doch jetzt musste er fast befürchten, dass sie die beste Erklärung für sein Verhalten lieferte.
Oder war einfach seine mentale Festplatte zu voll mit unverarbeiteten Details?
Unverarbeitete Details, wacklige Theorien, Morde.
Wenn alle Stricke reißen, muss man sich auf die Gegenwart konzentrieren.
Madeleines stehender Ratschlag: im Hier und Jetzt sein. Aufpassen.
Wahrnehmung des Augenblicks: der Heilige Gral des Bewusstseins.
Ashton war gerade mitten in einem Satz. »… tragikomische Unbeholfenheit der Strafjustiz, die eigentlich kriminell ist. Beim Umgang mit Sexualverbrechern ist dieses System auf geradezu lächerliche Weise inkompetent. Von denen, die es fasst, hilft es keinem einzigen und macht die meisten noch gefährlicher. Es lässt diejenigen laufen, die schlau genug sind, die sogenannten Fachleute zu überlisten. Es veröffentlicht Listen von Sexualstraftätern, die unvollständig und nutzlos sind. Und unter dem Deckmantel dieser PR-Masche lässt es Schlangen auf die Welt los, die Kinder verschlingen! « Sein böse funkelnder Blick wanderte von Gurney zu Hardwick und wieder zu Gurney. »Das ist das System, in dessen Dienst Sie sich mit all Ihren logischen Fähigkeiten, Ihrem ermittlerischen Geschick und Ihrer Intelligenz gestellt haben.«
Eine merkwürdige Rede, fand Gurney, eine elegante Kritik, die klang, als wäre sie schon öfter vorgetragen worden, vielleicht bei Fachtagungen; doch sie war geprägt von einem spürbaren Zorn, der alles andere als künstlich war. Als er Ashton in die Augen sah, erkannte er, dass ihm dieser Zorn nicht zum ersten Mal begegnete. Er hatte in den Augen der Opfer von sexuellem Missbrauch gebrannt. Am lebhaftesten war ihm eine fünfzigjährige Frau in Erinnerung geblieben, die gestanden hatte, ihren fünfundsiebzigjährigen Stiefvater mit der Axt erschlagen zu haben, weil er sie im Alter von fünf Jahren vergewaltigt hatte.
Vor Gericht verteidigte sie sich mit dem Argument, sie habe sicher sein wollen, dass ihre Enkelin und auch die Enkelinnen anderer Menschen nichts von ihm zu befürchten hatten. In ihren Augen loderte ein wilder, beschützerischer Zorn, und obwohl ihr Anwalt besänftigend eingreifen wollte, schwor sie, dass sie nur noch den einzigen Wunsch hatte, sie alle zu töten, jedes einzelne dieser Ungeheuer. Jeden Missbraucher wollte sie umbringen und zerstückeln. Als man sie aus dem Gerichtssaal schaffte, verkündete sie schreiend ihre Absicht, sich vor den Toren der Gefängnisse zu postieren und jeden Missbraucher zu töten, der auf freien Fuß kam, jeden einzelnen von ihnen, der auf die Welt losgelassen wurde. Jeden Funken Energie, den ihr Gott gegeben hatte, wollte sie dafür
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