Schließe deine Augen
unwiderstehlichen Legende gefüttert, und sie sind darauf eingestiegen, haben sie sich gegenseitig erzählt, sie ausgeschmückt, sie Fremden aufgetischt. Er hat Hector Flores frei erfunden und ihn Kapitel für Kapitel zu einer Legende gemacht. Eine Legende, die in Tambury jahrelang für Gesprächsstoff gesorgt hat. Der Mann wurde überlebensgroß, realer als die Wirklichkeit.«
»Und die zerschossene Teetasse?«
»Ganz einfach. Ashton hat den Schuss selbst abgefeuert, das Gewehr versteckt und es als gestohlen gemeldet. Es ist doch vollkommen glaubhaft, dass der wahnsinnige, undankbare Mexikaner dem Psychiater sein teures Gewehr stiehlt.«
»Moment mal. Auf dem Film, ganz am Anfang, noch vor dem Empfang geht Ashton doch zum Cottage, um mit Flores zu reden. Nachdem er geklopft hat, wurde ein ganz leises ›Está abierta.‹ aufgenommen. Wer soll das gesagt haben, wenn es keinen Hector Flores gab?«
»Ashton natürlich. Mit leiser Stimme. Er stand doch mit dem Rücken zur Kamera.«
»Aber die Schülerinnen, mit denen Hector in Mapleshade geredet hat …«
»Die Schülerinnen, mit denen er angeblich geredet hat, sind praktischerweise alle tot oder verschwunden. Woher wollen wir also wissen, dass er je mit einer von ihnen gesprochen hat? Es ist niemand greifbar, der wirklich behaupten kann, ihm von Angesicht zu Angesicht begegnet zu sein. Ist das allein nicht schon ein verdammt komischer Umstand?«
Ihr Blick fiel auf den Bildschirm, wo Ashton kurz mit zwei Mädchen redete und instruierend auf verschiedene Teile der Kapelle deutete. Er wirkte entspannt und selbstsicher wie ein siegreicher General am Tag der Kapitulation des Feindes.
Hardwick schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, dass sich Ashton diesen unglaublich komplizierten Plan ausgedacht hat – dass er sich diese imaginäre Person aus den Fingern gesogen hat – und diese Fiktion drei Jahre lang genährt hat, nur damit er irgendwann einen Sündenbock hat für den Fall, dass er eines Tages eine Frau, die er gerade geheiratet hat, ermorden kann? Hört sich das nicht irgendwie lächerlich an?«
»So ausgedrückt, hört es sich total lächerlich an. Aber vielleicht hatte er einen anderen Grund dafür, Hector zu erfinden.«
»Welchen Grund?«
»Das weiß ich nicht. Einen umfassenderen Grund. Einen praktischen Grund.«
»Kommt mir alles furchtbar wacklig vor. Und was ist dann überhaupt mit dieser Skard-Geschichte? Beruht die nicht auf der Theorie, dass sich einer der Skard-Brüder, wahrscheinlich Leonardo, als Hector ausgegeben und unverbesserliche Mapleshade-Schülerinnen mit der Aussicht auf Geld und Abenteuer dazu überredet hat, das Elternhaus nach dem Abschluss zu verlassen? Wenn es keinen Hector gibt, wo bleibt dann das Szenario mit den Sexsklavinnen?«
»Das weiß ich nicht.« Gurney war klar, dass das eine wichtige Frage war. Was war eine Theorie wert, die von der Vorstellung abhing, dass sich Leonardo Skard als Hector Flores getarnt hatte – wenn jemand mit dem Namen Hector Flores niemals existiert hatte?
77
Die letzte Folge
»Ach, übrigens«, bemerkte Gurney, »hast du deine Waffe bei dir?«
»Immer«, antwortete Hardwick. »Ohne das kleine Halfter würde sich mein Knöchel nackt anfühlen. Meiner bescheidenen Meinung nach kann eine Kugel manchmal genauso viel zur Lösung eines Problems beitragen wie ein wacher Verstand. Warum fragst du? Hast du irgendwas Dramatisches vor?«
»Im Augenblick noch nicht. Da müssen wir unserer Sache erst noch viel sicherer sein.«
»Gerade hast du dich verdammt sicher angehört.«
Gurney verzog das Gesicht. »Sicher ist nur, dass meine Version des Perry-Mords möglich ist. Oder dass sie nicht unmöglich ist. Scott Ashton könnte Jillian Perry umgebracht haben. Aber wir müssen noch weiter nachforschen, wir brauchen Fakten. Im Moment haben wir weder Beweise noch ein Motiv. Das Ganze ist nichts als eine Spekulation, eine logische Übung.«
»Aber wenn es doch …?«
Hardwicks Frage wurde vom dumpfen Geräusch der schweren Kapellentür einen Stock tiefer und einem scharfen metallischen Klicken unterbrochen. Reflexartig beugten sich beide zur Bürotür und lauschten auf die Schritte aus dem steinernen Treppenschacht.
Eine Minute später trat Scott Ashton mit der gleichen Aura von Macht und Sicherheit ins Büro, die sie am Monitor beobachtet hatten. Er ließ sich auf den weich gepolsterten Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken, nahm das Headset ab und schnippte es in die oberste Schublade. Dann legte
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