Schließe deine Augen
wohl Anfang sechzig. Er hatte einen fleischigen, herablassenden Mund, das Doppelkinn eines Gourmands und scharfe Augen. Er bewegte sich mit erstaunlicher Geschmeidigkeit und Anmut. Wie ein Fechtlehrer, dachte Gurney in Erinnerung an die Stunden, die er und Madeleine im zweiten oder dritten Jahr ihrer Ehe besucht hatten, als sie noch eifrig nach Aktivitäten suchten, an denen sie sich gemeinsam erfreuen konnten.
Die neben dem Arzt dahinschreitende fantastische Kleopatragestalt strahlte eine Zufriedenheit aus, die der Val Perry von vorhin völlig fehlte.
»Und jetzt«, verkündete Hardwick, »der Bräutigam und die bald darauf kopflose Braut.«
»O Mann.« Manchmal hatte Gurney den Eindruck, dass Hardwicks Gefühlskälte weit über den routinemäßigen Polizeizynismus hinausging und schon die Grenze zum Pathologischen streifte. Aber jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt, um … um was? Um ihm zu sagen, dass er ein verkorkstes Arschloch war? Um ihm eine Therapie vorzuschlagen?
Nach einem tiefen Atemzug konzentrierte sich Gurney wieder auf das Video, auf Dr. Scott Ashton und Jillian Perry Ashton, die lächelnd auf die Kamera zuschritten – im Hintergrund spärlicher Applaus, einige Bravorufe und ein ausgelassenes Barockcrescendo.
Staunend starrte Gurney die Braut an.
»Was ist los?«, fragte Hardwick.
»Ich hatte sie mir ganz anders vorgestellt.«
»Wie denn, verdammt?«
»Nach den Erzählungen ihrer Mutter hab ich nicht unbedingt erwartet, dass sie aussieht wie das Titelbild einer Zeitschrift für Brautmoden.«
Hardwick beäugte die strahlende junge Schönheit in ihrem bodenlangen weißen Satinkleid mit züchtigem, paillettenbesetztem Ausschnitt, den Strauß lachsfarbener Teerosen in den weiß behandschuhten Händen, das funkelnde Diadem auf dem straff nach oben gewundenen blonden Schopf, die leicht mit Lidstrich akzentuierten Augen, den vollkommenen Mund, der von einem exakt zu den Teerosen passenden Lippenstift belebt wurde.
Hardwick zuckte die Achseln. »Wollen sie nicht alle so aussehen?«
Gurney verzog das Gesicht. Die Konventionalität von Jillians Auftreten verwirrte ihn.
»Das haben die doch in den Genen«, ergänzte Hardwick.
»Ja, vielleicht.« Gurney blieb skeptisch.
Im Schnelldurchlauf erlebten sie, wie sich Braut und Bräutigam durch die Menge schoben, wie die Musiker mit Begeisterung ihre Streichinstrumente erklingen ließen und wie die Partyserviceangestellten zwischen den schlürfenden und mampfenden Gästen herumturnten. »Wir kommen allmählich zum Punkt«, erklärte Hardwick. »Die Passage, in der es passiert.«
»Du meinst den Mord?«
»Und ein paar interessante Sachen kurz davor und danach.«
Nach einigen Sekunden erschienen auf dem Bildschirm drei aus der Halbdistanz aufgenommene Personen, die miteinander redeten. Manche Worte waren besser hörbar als andere, die im allgemeinen Stimmengewirr oder im Vivaldi-Überschwang untergingen.
Hardwick zog ein weiteres gefaltetes Blatt aus der Tasche und reichte es Gurney, der das Format erkannte: das getippte Protokoll einer aufgezeichneten Unterhaltung.
»Schau dir die Bilder an und hör zu«, empfahl ihm Hardwick. »Ich sag dir, wann du im Protokoll mitlesen kannst, falls du was nicht mitkriegst. Die drei sind Chief Luntz und seine Frau Carol, nach vorn gewandt, und Ashton mit dem Rücken zur Kamera.« Mr und Mrs Luntz hatten hohe, mit Limonenstücken gekrönte Drinks in der Hand. Der Polizeichef balancierte zwei Kanapees auf der freien Handfläche. Ashtons Getränk wurde von seinem Körper verdeckt. Die hörbaren Gesprächsfetzen wirkten äußerst banal und kamen ausschließlich von Mrs Luntz.
»Ja, ja … Tag dafür … zum Glück hat die Wettervorhersage nicht … Blumen … die Jahreszeit, wo es sich wirklich lohnt, in den Catskills zu wohnen … Musik, mal was anderes, ideal für den Anlass … Mücken … keine einzige … in dieser Höhe unmöglich, Gott sei Dank, denn in Long Island sind die Mücken … Zecken, nein, Gott sei Dank nicht … hatte Borreliose, wirklich grauenvoll … falsche Diagnose … Übelkeit, Schmerzen, war schon ganz verzweifelt … wollte sich umbringen …«
Als Gurney Hardwick mit einem Seitenblick und hochgezogener Braue seine Ungeduld signalisierte, hörte er zum ersten Mal die lautere Stimme von Chief Luntz. »Carol, bei so einem Anlass spricht man doch nicht über Zecken. Heute ist ein glücklicher Tag, nicht wahr, Doktor?«
Jetzt deutete Hardwick mit dem Zeigefinger auf die oberste Zeile des
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