Schließe deine Augen
ich, dass es im Fall Mellery nichts gab, was auch nur im Entferntesten auf mehr als einen Täter hingedeutet hätte.«
»Irgendwie reagierst du so gereizt auf dieses Thema.«
»Gereizt? Gereizt bin ich höchstens, weil du mir mit irgendwelchen Andeutungen die Zeit stiehlst, in denen nichts anderes zum Ausdruck kommt als dein kranker Humor.«
»Dann ist das alles nur Zufall?« Hardwick schlug exakt jenen herablassenden Ton an, der in Gurneys Ohren kreischte wie ein Messer auf einer Tafel.
»Was alles?«
»Die Ähnlichkeiten in der Vorgehensweise.«
»Wenn du mir nicht gleich erklärst, was du meinst …«
Hardwicks Mund verzog sich in die Breite – ob Grinsen oder Grimasse, ließ sich nicht entscheiden. »Schau dir den Film an. Dauert nur noch kurz.«
Einige Minuten vergingen. Auf dem Bildschirm tat sich nichts Bedeutsames. Mehrere Gäste spazierten zu den Blumenbeeten beim Cottage, und die Frau, die Hardwick vorhin als Gattin des Vizegouverneurs vorgestellt hatte, deutete mit wortreichen Erklärungen auf verschiedene Pflanzen – offenbar eine Art botanische Führung. Wie an unsichtbaren Fäden lotste sie ihre Gruppe allmählich aus dem Bild. Die Kamera blieb auf das Cottage gerichtet. Hinter den Vorhängen war nichts zu erkennen.
Gerade als Gurney nach dem Zweck dieses Filmabschnitts fragen wollte, wechselte die Szene zu Scott Ashton mit dem Ehepaar Luntz im Vordergrund und dem Cottage im Hintergrund.
»Zeit für den Toast«, bemerkte Ashton. Alle drei blickten zum Cottage. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr hob Ashton die Hand und rief eine Serviererin heran.
Mit freundlichem Lächeln eilte sie zu ihm. »Ja, Sir?«
Er deutete auf das Cottage. »Sagen Sie meiner Frau, dass es schon nach vier ist.«
»Sie ist in dem süßen Häuschen da hinten bei den Bäumen?«
»Ja, bestellen Sie ihr bitte, dass es Zeit ist für den Hochzeitstoast.«
Als sie sich entfernte, wandte sich Ashton den anderen beiden zu. »Jillian verliert oft die Zeit aus den Augen, vor allem wenn sie jemanden zu was überreden will.«
Das Video zeigte, wie die junge Frau den Rasen überquerte und an die Cottagetür klopfte. Nach einigen Sekunden klopfte sie erneut und probierte dann den Knauf. Vergeblich. Sie schaute zurück zu Ashton und wandte hilflos die Handflächen nach oben. Er mimte ein energischeres Klopfen. Mit einem Stirnrunzeln versuchte sie es. (Diesmal war es so laut, dass es auf der Tonspur der Kamera zu hören war, die nach Gurneys Schätzung fünfzehn Meter vom Cottage entfernt war.) Als sich nichts rührte, kehrte sie wieder die Handflächen nach oben und schüttelte den Kopf.
Ashton brummte etwas, das offenbar nur für ihn selbst bestimmt war, und stapfte zum Cottage. Er trat schnurstracks auf die Tür zu und klopfte laut. Dann riss und zerrte er heftig am Knauf und rief: »Jilli! Jilli, die Tür ist abgeschlossen! Jillian!« Sichtlich frustriert und ratlos stand er da, dann steuerte er zielstrebig auf die Rückseite des Haupthauses zu.
Auf die Couchlehne gestützt erläuterte Hardwick: »Jetzt holt er einen Ersatzschlüssel, den er im Vorratsraum aufbewahrt.«
Kurz darauf kam Ashton wieder aus dem Haupthaus. Er ging zum Cottage, klopfte flüchtig und steckte den Schlüssel ins Schloss, nachdem er offenbar keine Antwort erhalten hatte. Er schob die Tür auf. Aus der Perspektive der Kamera, die das Geschehen in einem Winkel von ungefähr fünfundvierzig Grad zum Cottage aufnahm, war kaum etwas vom Inneren des Gebäudes zu erkennen – nur Ashton von der Seite, der jäh erstarrte. Nach kurzem Zögern trat er ein. Einige Sekunden später folgte ein gequälter, schockierter Laut, einmal, zweimal, dreimal drang ein schrilles »Hilfe!« heraus, dann taumelte Scott Ashton durch die Tür, stolperte und stürzte der Länge nach in ein Blumenbeet. Hemmungslos kreischte er immer wieder »Hilfe!«, so lange, bis es kein verständliches Wort mehr war.
9
Der Blick von der Tür
Nach Ashtons Zusammenbruch liefen die an vier Stellen auf dem Rasen postierten Kameras des Videounternehmens noch zwölf Minuten lang weiter und zeichneten das folgende Chaos in vollem Umfang auf. Danach wurden sie abgeschaltet und von Chief Luntz als Beweismittel beschlagnahmt.
Diese zwölf hyperaktiven Minuten waren komplett auf der geschnittenen DVD enthalten, die sich Gurney mit Hardwick ansah: gebrüllte Befehle und Fragen, entsetzte Schreie, Gäste, die zu Ashton und ins Cottage rannten, dann zurückwichen, eine Frau, die stürzte, eine andere,
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