Schließe deine Augen
in den Catskills ging keine Gefahr aus – vor allem wenn man hundert Meter von ihnen entfernt ruhig dasaß. Trotzdem hatte eine nicht identifizierbare Bewegung im Dunkeln etwas Unheimliches an sich.
Die Nacht war windstill, geräuschlos, nichts regte sich. Für Gurney jedoch fühlte es sich alles andere als friedlich an. Allerdings ging dieser Mangel wohl mehr von seinem Kopf aus als von der Atmosphäre um ihn herum und hatte mehr mit den Spannungen in seiner Ehe zu tun als mit den Schatten der Wälder.
Die Spannungen in seiner Ehe. Seine Ehe war nicht vollkommen. Zweimal wäre sie um ein Haar zerbrochen. Vor sechzehn Jahren, nachdem sein vierjähriger Sohn bei einem Unfall gestorben war, wofür er sich verantwortlich fühlte, war er zu einem Nervenbündel erstarrt, mit dem kaum ein Zusammenleben möglich war. Und erst vor zehn Monaten hatte sein obsessives Eintauchen in den Fall Mellery nicht nur seiner Ehe, sondern auch seinem Leben fast ein Ende gesetzt.
Dennoch glaubte er, dass das Problem zwischen ihm und Madeleine relativ einfacher Natur war, oder dass er es zumindest verstand. Zum einen hatten sie diametral entgegengesetzte Persönlichkeiten. Bei ihm lief der automatische Weg zum Begreifen in erster Linie über das Denken, bei ihr über das Fühlen. Er fand die Verbindung zwischen den Punkten faszinierend, sie die Punkte selbst. Er zog seine Kraft aus der Einsamkeit und verlor sie in Gesellschaft, für sie galt das Gegenteil. Für ihn war Beobachten nur ein Mittel, um zu einem klaren Urteil zu gelangen, für sie war Urteilen nur ein Mittel, um zu einer klaren Beobachtung zu gelangen.
Nach den Maßstäben traditioneller psychologischer Tests hatten sie fast keine Gemeinsamkeiten. Aber oft floss es wie elektrischer Strom zwischen ihnen, wenn sie feststellten, dass sie die Wahrnehmung von Menschen oder Ereignissen miteinander teilten, genauso wie den Sinn für Ironie, für Rührendes, für Komisches, für Kostbares, für Ehrliches und Unehrliches. Ein Gefühl, dass der jeweils andere einzigartig und so wichtig war wie niemand sonst. Und in seinen wärmeren und unschärferen Tagen sah Gurney in diesem Gefühl den Kern der Liebe.
Das war der Widerspruch, in dessen Zeichen ihre Beziehung stand. Sie waren völlig und manchmal quälend verschieden in ihren tief verwurzelten Neigungen und dennoch miteinander verbunden durch starke Augenblicke der Einsicht und Zuneigung. Das Dumme war nur … seit dem Umzug nach Walnut Crossing waren diese Augenblicke immer seltener geworden. Es war lange her, dass sie sich umarmt, wirklich umarmt hatten, als hielten sie beide das kostbarste Wesen der Welt umschlungen.
Er war tief in Gedanken versunken und hatte seine Umgebung völlig vergessen. Dann riss ihn das Jaulen von Kojoten zurück in die Gegenwart. Es war schwer auszumachen, wo die durchdringenden Schreie herkamen und wie viele Tiere es waren. Er schätzte, dass es ein drei- bis fünfköpfiges Rudel irgendwo auf dem nächsten Hügelkamm war, ungefähr eineinhalb Kilometer östlich des Teichs. Als das Geheul plötzlich aufhörte, wurde die Stille noch tiefer.
Bald füllte sein Bewusstsein die sensorische Leere mit weiteren Überlegungen zu seiner Ehe. Allerdings war ihm klar, dass Verallgemeinerungen, so sehr er auch an ihnen hing, wenig zur Lösung praktischer Probleme beitrugen. Und das drängende praktische Problem im Augenblick war, dass er eine Entscheidung treffen musste in einer Sache, bei der er und Madeleine offenkundig verschiedener Meinung waren: Sollte er den Fall Perry übernehmen oder nicht?
Madeleines Gefühle konnte er sich lebhaft vorstellen, nicht nur aufgrund ihrer jüngsten Äußerungen, sondern auch wegen der generellen Sorge, mit der sie jede polizeibezogene Aktivität betrachtete, der er in den zwei Jahren nach seiner Pensionierung nahe gekommen war. Für sie war der Fall Perry eine Frage von Schwarz und Weiß. Wenn er den Fall annahm, bewies das, dass er selbst im Ruhestand noch zwanghaft auf die Lösung von Morden fixiert war, und dass sie auf eine düstere Zukunft zusteuerten. Eine Ablehnung des Falls hingegen würde in ihren Augen einen Wandel anzeigen, den ersten Schritt seiner Entwicklung vom arbeitssüchtigen Polizisten zum naturliebenden Kajakpaddler. Doch, so argumentierte er im Geist, als wäre sie tatsächlich anwesend, Schwarz-Weiß-Alternativen sind unrealistisch und führen zu schlechten Entscheidungen, weil sie per definitionem die meisten Lösungen ausschließen. Auch in dieser
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