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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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war Flores also dorthin gegangen oder gelaufen und hatte die noch blutige Waffe unter etwas Erde und Laub verscharrt. Aber was dann? Hatte er die Straße erreicht, ohne eine für die Hunde wahrnehmbare Spur zu hinterlassen? War er hangabwärts zu Kiki Mullers Haus gelangt? Oder hatte sie mit einem Auto auf der Straße gewartet, um ihm zur Flucht zu verhelfen und ein neues Leben mit ihm anzufangen?
    Oder war Flores einfach zum Cottage zurückgekehrt? War das der Grund, warum die Geruchsspur nur bis zur Machete lief? War es denkbar, dass sich Flores im Cottage oder in der Nähe versteckt hielt, ohne dass ihn eine ganze Schar von Polizisten, Detectives und Kriminaltechnikern aufspürte? Eher unwahrscheinlich.
    Als Gurney von seinem Notebook aufblickte, bemerkte er plötzlich, dass Madeleine am Ende des Tischs saß. Erschrocken fuhr er hoch. »O Gott! Wie lange bist du denn schon hier?«
    Statt einer Antwort zuckte sie nur die Achseln.
    »Wie spät ist es?« Sofort wurde ihm die Albernheit seiner Frage klar. Die Uhr auf der Anrichte lag nicht in ihrem Blickfeld, sondern in seinem. Außerdem konnte er auch vom Bildschirm ablesen, dass es 22.55 Uhr war.
    »Was machst du da?« Ihre Frage klang eher wie eine Herausforderung.
    Er zögerte. »Ich versuche nur, schlau zu werden aus diesem … Material.«
    »Hm.« Ein humorloses Lachen, verkürzt auf eine Silbe.
    Er hatte Mühe, ihren unverwandten Blick zu erwidern. »Was denkst du?«
    Sie lächelte und runzelte fast gleichzeitig die Stirn. »Ich denke, dass das Leben kurz ist.« Sie wirkte wie jemand, der sich einer traurigen Wahrheit stellen muss.
    »Und deshalb …?«, soufflierte er, um ihre seltsame Stimmung zu durchbrechen.
    Als er schon keine Antwort mehr erwartete, sprach sie: »Deshalb läuft uns die Zeit davon.« Sie legte den Kopf schief – vielleicht war es nur ein leichtes, unbeabsichtigtes Zucken – und musterte ihn neugierig.
    »Die Zeit wofür?«, hätte er gern erwidert, um diesen unkontrollierten Wortwechsel in überschaubarere Bahnen zu lenken, doch etwas in ihren Augen hielt ihn davon ab. So fragte er: »Möchtest du darüber reden?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Das Leben ist kurz. Das sollte man bedenken.«

15
Schwarz und Weiß
    In der Stunde nach Madeleines Besuch in der Küche war Gurney mehrmals versucht, ins Schlafzimmer zu gehen, um den Sinn ihrer Äußerung zu ergründen. Doch stets wandte er sich wieder reflexartig den Vernehmungsprotokollen zu.
    Hin und wieder schien Madeleine die Dinge wie durch eine trostlose Linse zu betrachten. Als hätte sich ihr Augenmerk auf einen kahlen Fleck in der Landschaft gerichtet und würde in ihm ein Paradigma der gesamten Landschaft erkennen. Aber dieser Perspektivenwechsel dauerte stets nur kurz an, dann weitete sich ihr Blick wieder, ihre Freude und ihr Pragmatismus kehrten zurück. Es war nicht das erste Mal, dass es passierte, und sicher auch nicht das letzte Mal. Doch im Moment verunsicherte ihn ihre Stimmung und hinterließ eine angespannte Hohlheit in seinem Magen – ein Gefühl, dem er unbedingt entrinnen wollte. Also holte er sich von der Garderobe in der Vorratskammer eine leichte Jacke und trat durch die Seitentür hinaus in die sternlose Nacht.
    Durch die dicke Wolkendecke drang schwacher Mondschein. Sobald seine Augen sich daran gewöhnt hatten, folgte er dem kaum zu erahnenden Pfad durch das hohe Unkraut, den sanften Wiesenhang hinunter zu der verwitterten Bank am Weiher. Er setzte sich und lauschte. Allmählich traten verschwommene Umrisse hervor, Ränder von Gegenständen, vielleicht Bäume, aber nichts so klar, dass er sich sicher hätte sein können. Plötzlich nahm er am anderen Ende des Teichs etwa zwanzig Grad seitlich eine leise Bewegung wahr. Als er hinspähte, flossen die dunklen Formen undeutlich zusammen – große Brombeersträucher, hängende Äste, ein wirres Dickicht aus Rohrkolben am Ufer. Erst als er den Blick ein wenig neben die Stelle richtete, wo er die Bewegung bemerkt hatte, sah er es erneut – mit Sicherheit irgendein Tier, vielleicht in der Größe eine kleinen Rehs oder eines großen Hundes. Seine Augen huschten zurück, aber da war es wieder verschwunden.
    Ihm war klar, dass das Phänomen etwas mit der Empfindlichkeit der Netzhaut zu tun hatte. Aus diesem Grund konnte man häufig einen schwach leuchtenden Stern sehen, wenn man knapp an ihm vorbeischaute, statt ihn direkt anzuvisieren. Und das Tier, wenn es denn eines war, war bestimmt harmlos. Selbst von kleinen Bären

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