Schließe deine Augen
Persönlichkeit ein äußerst scharfsinniger Verstand verbarg. Gurney fragte sich oft, wie weit es dieser Mann hätte bringen können, wenn er sich nicht mit seiner negativen Haltung selbst im Weg gestanden hätte. Natürlich galt das im Grunde für viele Menschen, unter anderem auch für Gurney selbst.
Er schenkte sich die Begrüßung. »Stimmst du mir zu, Jack?«
»Sicher ist es nicht.«
»Wie so vieles. Aber die Logik leuchtet dir ein, oder?«
»Klar.« Hardwicks Ton brachte zum Ausdruck, dass es ihm einleuchtete, ohne ihn zu beeindrucken. »Die Polizei von Tambury hat Ashtons Anruf wegen der Teetasse ungefähr um 16.15 Uhr bekommen. Ashton hat angegeben, dass er gleich nach dem Vorfall ins Haus gerannt ist. Wenn wir davon ausgehen, dass er von der Terrasse zum nächsten Telefon musste, dass er vielleicht noch durchs Fenster gespäht hat, um nach dem Schützen Ausschau zu halten, und dass er statt 911 die Nummer der örtlichen Polizei gewählt hat, dann können wir folgern, dass der Schuss ungefähr um 16.13 Uhr abgegeben wurde. Aber das ist nur der Schuss. Um die Verbindung zu dem exakten Zeitpunkt des Mordes eine Woche davor zu ziehen, brauchst du drei wilde Hypothesen. Erstens, der Teetassenschütze hat auch die Braut umgelegt. Zweitens, er wusste genau, wann er sie getötet hat. Drittens, sein Schuss auf die Teetasse am gleichen Wochentag und um die gleiche Zeit war eine Botschaft. Darauf willst du doch raus, oder?«
»So ungefähr.«
»Unmöglich ist es nicht.« Hardwicks Stimme beschwor seine gewohnheitsmäßig skeptische Miene herauf, die bleibende Furchen in sein Gesicht gegraben hatte. »Aber was bringt uns das? Was macht es für einen Unterschied, ob es so war oder nicht?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber irgendwas an diesem Echoeffekt …«
»Ein abgetrennter Kopf und eine zerschmetterte Teetasse, beide auf einem Tisch, nur eine Woche auseinander?«
»So was in der Richtung.« Gurney bekam auf einmal Zweifel. Hardwick hatte ein Talent, die Ideen anderer absurd klingen zu lassen. »Aber noch mal zu dem Müllberg, den du bei mir abgeladen hast. Gibt es einen bestimmten Punkt, wo ich ansetzen soll?«
»Du kannst überall anfangen, Kumpel. Wirst bestimmt nicht enttäuscht sein. Praktisch jede Seite hat was Schräges und Verdrehtes zu bieten. Hab noch nie einen schrägeren, verdrehteren Fall erlebt. Und schrägere, verdrehtere Leute. Meine Baucheinschätzung? Irgendwas ist faul an der Sache.«
»Noch eine Frage, Jack. Wie kommt es, dass es keine Aufzeichnungen über eine Befragung von Withrow Perry zu dem Teetassenvorfall gibt?«
Nach kurzem Schweigen folgte ein knarzendes Wiehern, das kaum als Lachen zu erkennen war. »Schlau, Davey, wirklich schlau. Hast gleich den Finger auf die wunde Stelle gelegt. Es gab keine offizielle Befragung, weil ich offiziell von dem Fall abgezogen wurde an dem Tag, als wir gerade herausgefunden hatten, dass der nette Doktor zufällig die ideale Waffe hat, um aus dreihundert Metern Entfernung ein Loch in eine Teetasse zu ballern. Ich würde dieses Versäumnis glatt dem bescheuerten neuen Ermittlungsleiter anlasten.«
»Und du hast ihn wohl nicht eigens daran erinnert.«
»Ich sollte mich nicht mehr in die laufende Untersuchung einmischen. Das hat mir unser verehrter Captain persönlich gesteckt.«
»Und warum hat man dich von dem Fall abgezogen?«
»Hab ich dir schon erklärt. Unangemessene Wortwahl gegenüber meinem Vorgesetzten. Hab ihn auf die Beschränktheit seines Ansatzes hingewiesen. Möglicherweise hab ich dabei auch auf die Beschränktheit seines Verstandes und seine allgemeine Unfähigkeit angespielt.«
Lange zehn Sekunden verstrichen.
»Hört sich an, als würdest du ihn hassen, Jack.«
»Hassen? Nein, ich hasse ihn nicht. Ich hasse niemanden. Ich liebe diese ganze Scheißwelt.«
14
Das Leben ist kurz
Nachdem er zwischen zwei Stapeln auf dem langen Tisch ein wenig Platz für sein Notebook geschaffen hatte, ging Gurney auf Google Earth und gab Ashtons Adresse in Tambury ein. Er richtete das Bild auf das Cottage und das Dickicht dahinter aus und vergrößerte es auf die maximale Auflösung. Mithilfe der Maßstabsdaten am Bildrand sowie der Richtungs- und Entfernungsangaben über das Gelände hinter dem Cottage, die er aus den Fallunterlagen kannte, konnte Gurney den Fundort der Mordwaffe auf eine relativ kleine Fläche eingrenzen, die etwa dreißig Meter vor der Badger Lane lag. Nachdem er durch das rückwärtige Fenster des Cottages geflohen war,
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