Schließe deine Augen
Situation sprach sicher das meiste für einen Mittelweg zwischen Schwarz und Weiß.
Ausgehend von dieser allgemeinen Regel fiel ihm sogleich ein idealer Kompromiss ein. Er würde den Fall annehmen, aber mit einer strikten zeitlichen Begrenzung – zum Beispiel eine Woche. Höchstens zwei. In diesem festgelegten Zeitrahmen würde er sich mit dem Beweismaterial befassen, lose Fäden aufgreifen, vielleicht einige wichtige Leute noch einmal vernehmen, den Fakten nachgehen, so viel herausfinden, wie es in seinen Kräften stand, Schlussfolgerungen ziehen, Empfehlungen aussprechen und …
Plötzlich setzte das Geheul der Kojoten wieder ein, doch jetzt lauter, als wären sie auf halber Höhe des bewaldeten Hangs hinter der Scheune. Schrill und aufgeregt klangen die Schreie herüber. Gurney war sich nicht sicher, ob sie wirklich näher kamen oder nur lauter wurden. Dann nichts mehr. Nicht der kleinste Laut. Durchdringende Stille. Zehn lange Sekunden verstrichen. Dann fingen sie nacheinander an zu jaulen. Eine Gänsehaut lief Gurney über Rücken und Arme. Wieder glaubte er, aus dem Augenwinkel den Schatten einer Bewegung zu erahnen.
Dann hörte er das Schlagen einer Autotür. Scheinwerfer schwankten die Wiese herunter, und die Strahlen wippten wild über die buschige Vegetation, weil der Wagen zu schnell über das unebene Gelände fuhr. Mit einem Ruck stoppte er ungefähr drei Meter vor der Bank.
Aus dem offenen Fahrerfenster drang ungewohnt laut, ja geradezu panisch Madeleines Stimme. »David!« Obwohl er schon aufgestanden war und im seitlichen Gleißen der Scheinwerfer auf das Auto zusteuerte, schrie sie noch einmal fast kreischend: »David!«
Erst als er im Auto saß und sie das Fenster schloss, fiel ihm auf, dass das entsetzliche Geheul aufgehört hatte. Sie drückte auf den Knopf für die Zentralverriegelung und legte die Hände aufs Lenkrad. Trotz der Dunkelheit glaubte er zu sehen, dass sie das Steuer mit starrem Griff umklammert hielt.
»Hast du … hast du nicht gehört, wie sie näher kommen?« Sie rang nach Luft.
»Ich hab sie gehört. Ich dachte, sie jagen irgendein Tier … ein Kaninchen oder so.« Er wollte hinzufügen, dass Kojoten für Menschen nicht gefährlich waren.
»Ein Kaninchen ?« Ihre Stimme klang heiser, ungläubig.
Eigentlich konnte er das gar nicht so genau erkennen, aber ihr Gesicht schien regelrecht zu beben.
Schließlich atmete sie zittrig durch, dann noch einmal, und ließ das Steuer los, um die Hände zu entspannen. »Was hast du denn da unten gemacht?«
»Ich weiß nicht. Hab bloß ein bisschen nachgedacht … Wollte mir was durch den Kopf gehen lassen.«
Nach einem weiteren tiefen Atemzug, der schon ruhiger wirkte, drehte sie automatisch den Zündschlüssel. Da der Motor noch lief, wurde das mit einem knirschenden Laut quittiert, auf das sie wiederum mit einem irritierten Schrei reagierte.
Sie wendete vor der Scheune und fuhr über die Wiese zurück zum Haus. Näher bei der Seitentür als sonst parkte sie den Wagen.
»Und was genau wolltest du dir überlegen?«, fragte sie, als er gerade zum Aussteigen ansetzte.
»Bitte?« Er hatte genau verstanden, versuchte lediglich, die Antwort hinauszuschieben.
Sie drehte nur den Kopf halb in seine Richtung und wartete.
»Ich hab mir überlegt, wie … wie man das Ganze vernünftig angehen kann.«
»Vernünftig.« Sie sprach das Wort auf eine Weise aus, die ihm jede Bedeutung raubte.
»Vielleicht können wir das drinnen besprechen.« Er öffnete die Tür, um wenigstens für eine Minute zu entkommen. Als er aussteigen wollte, blieb sein Fuß an einer Stange auf dem Autoboden hängen. Im gelblichen Schimmer des Deckenlichts bemerkte er den schweren Holzstiel der Axt, die sie normalerweise in der Truhe neben der Seitentür aufbewahrten.
»Was ist das?«
»Eine Axt.«
»Ich meine, warum ist sie im Auto?«
»Ist mir als Erstes in die Finger gekommen.«
»Weißt du, Kojoten sind eigentlich nicht …«
»Woher willst du das wissen, verdammt?«, unterbrach sie ihn wütend. »Woher willst du das wissen?« Sie zuckte zurück, als hätte er nach ihrem Arm gegriffen. In unbeholfener Eile stieg sie aus dem Wagen, knallte die Tür zu und rannte ins Haus.
16
Ein vernünftiger Kompromiss
In den frühen Morgenstunden hatte eine Kaltfront mit trockener Herbstluft die dichte Wolkendecke weggeblasen. In der Dämmerung zeigte sich der Himmel hellblau und um neun bereits in tiefem Azur. Der Tag versprach frisch und strahlend zu werden, klar und
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