Schließe deine Augen
Größe eines Doppelblatts aus dem Sonntagsmagazin der New York Times.
Dann wurde Gurney klar, warum ihm gerade dieser Größenvergleich eingefallen war: Es war tatsächlich ein Foto, das er in eben dieser Zeitschrift gesehen hatte. Das Bild gehörte in das exklusive Modereklame-Genre, in dem die Models einander oder die Welt mit arroganter, leicht betäubter Sinnlichkeit mustern. Doch selbst dafür strahlte dieses Beispiel etwas zutiefst Ungesundes aus. Es zeigte zwei junge Frauen, sicher noch keine zwanzig, die sich auf dem Boden eines Schlafzimmers räkelten und einander mit einer Mischung aus Erschöpfung und unersättlichem sexuellem Hunger beäugten. Sie waren nackt, mit Ausnahme einiger geschickt drapierter Seidenschals – wahrscheinlich das Produkt, wofür geworben wurde.
Bei näherem Hinsehen erkannte Gurney, dass es ein verfälschtes Foto war. In Wirklichkeit war es aus zwei Fotos desselben Models in unterschiedlichen Posen so zusammenmontiert und retuschiert worden, dass es wirkte, als würden die beiden Gestalten sich ansehen. Dies fügte der ohnehin schon reichen Pathologie der Szenerie noch eine narzisstische Note hinzu. In gewisser Weise war es ein beeindruckendes Kunstwerk – eine Darstellung purer Dekadenz, die auch Dantes Inferno hätte illustrieren können. Mit neugieriger Miene wandte sich Gurney zu Ashton um.
»Jillian«, bemerkte Ashton tonlos. »Meine verstorbene Frau.«
Gurney war sprachlos.
Das Bild warf so viele Fragen auf, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte.
Außerdem hatte er das Gefühl, dass Ashton seine Verwirrung nicht nur beobachtete, sondern regelrecht genoss. Was weitere Fragen aufwarf. Schließlich fiel ihm etwas ein, was er bei ihrer ersten Begegnung völlig vergessen hatte. »Mein tiefstes Beileid zu Ihrem tragischen Verlust. Verzeihen Sie mir, dass ich das nicht schon gestern gesagt habe.«
Eine schwere Wolke der Niedergeschlagenheit und Müdigkeit schien sich über Ashtons Gesichtszüge zu legen. »Danke.«
»Ich bin überrascht, dass Sie hierbleiben konnten, wo Sie doch jeden Tag durch das Cottage dort hinten an die Ereignisse erinnert werden.«
»Es wird niedergerissen.« In Ashtons Ton trat etwas Hartes. »Niedergerissen, zermalmt, verbrannt. Sobald die Polizei die Genehmigung erteilt. Im Augenblick ist es noch als Tatort gesperrt. Aber der Tag wird kommen, und dann wird das Cottage nicht mehr existieren.«
Die Müdigkeit in seinem Gesicht war von einer Welle heftiger Entschlossenheit verdrängt worden. Er holte tief Luft und schien sich wieder zu beruhigen. Er lächelte grimmig. »Also, wo fangen wir an?« Er deutete auf zwei burgunderfarbene Samtsessel, zwischen denen sich ein quadratisches Tischchen erhob. Die Platte bestand aus einem handgeschnitzten Intarsienschachbrett, aber Figuren waren nicht zu sehen.
Gurney hielt es für das Beste, ohne lange Umschweife auf das sensationell geschmacklose Bild von Jillian zu sprechen zu kommen. »Ich hätte nie gedacht, dass das Mädchen auf dem Foto an der Wand die Braut ist, die ich in dem Video gesehen habe.«
»Das fließende weiße Kleid, das sittsame Make-up und so weiter?« Ashton wirkte fast amüsiert.
»Da liegen wirklich Welten dazwischen.« Gurney betrachtete das Foto.
»Würden Sie es besser verstehen, wenn Sie wüssten, dass die traditionelle Brautaufmachung für Jillian nur ein Witz war?«
»Ein Witz?«
»Das kommt Ihnen vielleicht roh und gefühllos vor, Detective, aber wir haben nicht viel Zeit. Deswegen möchte ich Sie schnell über Jillian ins Bild setzen. Einiges davon haben Sie vielleicht schon von ihrer Mutter gehört, anderes nicht. Jillian war reizbar, furchtbar launisch, leicht gelangweilt, egoistisch, intolerant, ungeduldig und sprunghaft.«
»Beeindruckendes Persönlichkeitsprofil.«
»Aber das war nur ihre helle Seite – die relativ harmlose Jillian, verzogen und bipolar. Ihre dunkle Seite war noch mal etwas ganz anderes.« Ashton starrte unverwandt auf das Bild, als wollte er die Richtigkeit seiner Worte überprüfen.
Gurney wartete stumm ab, wohin diese außerordentlichen Ausführungen führen würden.
»Jillian …« Ashton sprach jetzt leiser und langsamer. »Jillian ist in ihrer Kindheit eine Täterin gewesen, sie hat sich an anderen Kindern sexuell vergangen. Das war das Hauptsymptom der Erkrankung, wegen der sie im Alter von dreizehn an die Mapleshade Academy gekommen ist. Ihre sichtbaren affektiven und verhaltensmäßigen Probleme waren nur
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