Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
Vom Netzwerk:
Oberflächenphänomene.«
    Er befeuchtete die Lippen mit der Zungenspitze und rieb dann mit Daumen und Zeigefinger darüber, als wollte er sie wieder trocknen. Sein Blick schwenkte von dem Foto zu Gurney. »Wollen Sie jetzt Ihre Fragen stellen, oder soll ich es für Sie tun?«
    Gurney hatte nichts dagegen, wenn Ashton weiterredete, also nickte er ermunternd. »Was wäre Ihrer Ansicht nach meine erste Frage?«
    »Wenn sich Ihnen nicht der Kopf drehen würde, weil es so viele sind? Ich denke, als Erstes würden Sie – zumindest sich selbst – fragen: Ist Ashton verrückt? Denn wenn ja, würde das vieles erklären. Doch wenn nicht, wäre Ihre zweite Frage: Weshalb um Himmels willen wollte er eine Frau mit einer derartigen psychischen Störung heiraten? Auf die erste Frage kann ich keine zuverlässige Antwort geben. Kein Mensch ist ein glaubwürdiger Garant für seine eigene geistige Normalität. Auf die zweite Frage würde ich erwidern, dass sie auf unfaire Weise voreingenommen ist, da Jillian eine andere Eigenschaft hatte, die ich noch nicht erwähnt habe. Scharfsinn. Einen Scharfsinn, der jedes übliche Maß weit hinter sich ließ. Sie hatte den beweglichsten Verstand, der mir je begegnet ist. Ich selbst bin ungewöhnlich intelligent, Detective. Das ist keine Angeberei, sondern die schlichte Wahrheit. Sehen Sie das Schachbrett auf dem Tisch? Es gibt keine Schachfiguren. Ich spiele ohne sie. Im Kopf. Ich empfinde es als eine reizvolle geistige Herausforderung, mir die Positionen der Figuren einzuprägen und mir die Züge vorzustellen. Manchmal spiele ich gegen mich selbst und visualisiere das Brett abwechselnd von der weißen und der schwarzen Seite. Die meisten Leute sind beeindruckt von dieser Fähigkeit. Aber glauben Sie mir, Jillians Geist hat meinen weit in den Schatten gestellt. Ich finde eine solche Intelligenz bei einer Frau sehr attraktiv – besonders auch in erotischer Hinsicht.«
    Je mehr Gurney erfuhr, desto mehr Fragen fielen ihm ein. »Ich habe gehört, dass Missbraucher häufig selbst Opfer von sexuellem Missbrauch sind. Stimmt das?«
    »Ja.«
    »Auch in Jillians Fall?«
    »Ja.«
    »Wer war der Missbraucher?«
    »Es war nicht nur eine Person.«
    »Wer waren sie?«
    »Nach einem unbestätigten Bericht waren es Val Perrys cracksüchtige Freunde, und Jillian wurde im Alter zwischen drei und sieben Jahren von zahlreichen Tätern missbraucht.«
    »O Gott. Gibt es offizielle Aufzeichnungen dazu? Akten beim Sozialamt?«
    »Nichts davon wurde damals angezeigt.«
    »Erst in Mapleshade ist alles rausgekommen? Wie steht es mit Aufzeichnungen über ihre Behandlung und über ihre Angaben bei Therapiesitzungen?«
    »Es gibt keine. Ich sollte vielleicht etwas über Mapleshade erklären. Zunächst handelt es sich um ein Internat, nicht um eine psychiatrische Einrichtung. Ein Privatinternat für junge Menschen mit speziellen Problemen. In den letzten Jahren haben wir eine wachsende Anzahl von Schülern aufgenommen, deren Probleme sich um Sexualität und vor allem Missbrauch drehen.«
    »Ich habe gehört, dass der Schwerpunkt Ihrer Behandlung nicht auf den Missbrauchsopfern liegt, sondern auf den Tätern.«
    »Ja, allerdings ist Behandlung nicht der richtige Ausdruck, da wir wie schon gesagt keine psychiatrische Einrichtung sind. Und die Grenze zwischen Missbrauchern und Missbrauchten ist nicht immer so scharf, wie Sie vielleicht annehmen. Aber ich will darauf hinaus, dass die Mapleshade Academy Erfolge erzielt, weil sie diskret ist. Wir akzeptieren keine Einweisungen durch Gericht oder Sozialamt, wir arbeiten nicht mit Versicherungen zusammen, wir erhalten keine staatlichen Beihilfen, wir stellen keine medizinischen oder psychiatrischen Diagnosen, wir bieten keine Behandlung, und – das ist von entscheidender Bedeutung – wir führen keine ›Patientenakten‹.«
    »Trotzdem hat die Schule offenbar den Ruf, unter Leitung des angesehenen Dr. Ashton die neusten Behandlungsansätze zu praktizieren.« Gurneys Stimme wurde schärfer.
    Ashton zeigte keine Reaktion. »Störungen dieser Art sind mit einem größeren Stigma behaftet als jede andere. Die Gewissheit, dass alles hier absolut vertraulich ist, dass es keine Fallakten, Versicherungsfragebögen oder Therapienotizen gibt, die entwendet oder beschlagnahmt werden können, ist für unsere Klientel ein unschätzbarer Vorteil. Rein rechtlich gesehen sind wir nur eine Privatoberschule mit kompetenten Lehrern, die für Gespräche über eine Reihe sensibler Themen zur

Weitere Kostenlose Bücher