Schließe deine Augen
praktischeren Dingen zuzuwenden. In der kleinen Küche durchsuchte er die leeren Schubladen und Schränke. Im Schlafzimmer trat er sofort zu dem Fenster, durch das der Mörder geflohen war. Er öffnete es und kletterte schließlich hinaus.
Der Grund draußen lag nur ungefähr dreißig Zentimeter tiefer als der Boden drinnen. Mit dem Rücken zum Cottage spähte er durch das Gehölz. Es war feucht und still, und der Kräuterduft aus dem Garten war einem waldigen Aroma gewichen. Bedächtig bahnte er sich seinen Weg und zählte die Schritte. Bei einhundertvierzig bemerkte er ein gelbes Band an der Spitze eines Plastikpfahls, der wie ein dünner Besenstiel in die Erde gebohrt war.
Als er die Stelle erreichte, blickte er sich nach allen Richtungen um. Rechts wurde die Szene von einer steilen Schlucht begrenzt. Das Cottage hinter ihm lag verborgen hinter Blattwerk, genau wie die Straße, die fünfzig Meter vor ihm querte, wie er aus den Google-Satellitenfotos wusste. Er inspizierte die mit Erde und Laub bedeckte Stelle, wo die Machete versteckt worden war, und fragte sich erneut, warum die Hundestaffel keine weiterführende Spur gefunden hatte. Es kam ihm wenig wahrscheinlich vor, dass Flores hier die Schuhe gewechselt oder sie mit Plastik verhüllt hatte und weiter zur Straße oder durch den Wald zu einem anderen Haus (dem von Kiki Muller?) gelaufen war. Die Frage, die schon vorher an ihm genagt hatte, blieb unbeantwortet: Was hatte es für einen Sinn, eine halbe Spur zu hinterlassen, die zu einer Waffe führte? Und wenn das Ziel war, dass die Waffe entdeckt wurde, wieso war sie dann überhaupt notdürftig verscharrt worden? Und dann gab es noch das Rätsel der Stiefel, der einzige persönliche Gegenstand, den Flores zurückgelassen, und deren Witterung die Suchhunde aufgenommen hatten. Welche Rolle spielten sie für Flores’ Flucht?
Die Stiefel waren im Haus gefunden worden – war das ein Hinweis darauf, dass Flores vom Cottage hierhergekommen war, die Machete versteckt hatte und dann umgekehrt war, um zurück ins Haus zu steigen? Das löste einen Teil des Geheimnisses um die Geruchsspur. Aber es führte zu einem neuen Problem: Flores wäre dann wieder im Cottage gewesen, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als die Leiche entdeckt wurde, ohne eine Möglichkeit, es vor dem Eintreffen der Polizei unbemerkt zu verlassen. Außerdem bot auch die Umkehrhypothese keine Antwort auf die Frage, weshalb Flores überhaupt eine Geruchsspur bis zur Machete hinterlassen hatte. Außer er wollte den Eindruck wecken, dass er aus der Gegend verschwunden war, ohne dass dies der Fall war … Den Eindruck, dass er durch den Wald geflohen war und unterwegs in aller Eile die Waffe versteckt hatte, während er sich in Wirklichkeit im Cottage befand. Aber wo im Cottage? Wo konnte sich jemand in einem derart kleinen Gebäude verbergen – in einem Gebäude, das sechs Stunden lang mit größter Sorgfalt von einem Team von Kriminaltechnikern durchkämmt worden war?
Gurney trabte zurück durch den Wald, kletterte durch das Fenster und schritt noch einmal die wenigen Quadratmeter ab, auf der Suche nach möglichen Hohlräumen über der Decke oder unter dem Boden. Das Dach hatte eine leichte Neigung und hätte zur Mitte hin vielleicht einem Kauernden Platz geboten. Aber wie bei den meisten Konstruktionen dieser Art gab es keinen Zugang. Auch der Boden war fugenlos, ohne erkennbare Öffnung zu einem verborgenen Keller. In jedem Zimmer prüfte er von beiden Seiten die Wände, um sicherzugehen, dass es keinen geheimen Hohlraum gab.
Die Vorstellung, dass Flores in diesen Stiefeln aus dem Wald zurückgekehrt war und sich in dem kleinen Cottage versteckt hatte, löste sich genauso schnell in Luft auf, wie sie entstanden war. Gurney schloss die Tür ab, legte den Schlüssel wieder unter den schwarzen Stein und ging zu seinem Wagen. Dort wühlte er in dem Fallordner, bis er Scott Ashtons Handynummer gefunden hatte.
Die sanfte Baritonstimme lud ihn ein, eine Nachricht zu hinterlassen, der baldmöglichst ein Rückruf folgen sollte. Sie verströmte unendlichen Frieden und die Verheißung, dass alle Probleme im Leben eines Menschen letztlich lösbar waren. Gurney äußerte seinen Wunsch, noch einige Fragen nach Flores zu stellen.
Er schaute auf die Uhr. Es war 10.31 Uhr. Vielleicht sollte er Val Perry anrufen und ihr seine ersten Eindrücke von dem Fall schildern. Als er gerade die Nummer wählen wollte, läutete das Telefon in seiner Hand.
»Gurney.«
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