Schließe deine Augen
dringende Bedürfnis, das Durcheinander von Informationen und Möglichkeiten in seinem Kopf zu sichten und in eine überschaubare Ordnung zu bringen. Der Nieselregen hatte zwar endlich aufgehört, aber außerhalb von Ashtons Haus gab es keinen trockenen Platz zum Hinsetzen. Also ließ er sich in seinem Wagen nieder und schlug in dem Spiralblock mit den Notizen über Calvin Harlen eine neue Seite auf. Mit geschlossenen Augen ließ er die Begegnung mit Ashton Revue passieren.
Bald darauf musste er einsehen, dass ihm diese disziplinierte Vorgehensweise nicht weiterhalf. Wie sehr er sich auch mühte, die Einzelheiten in ihrer chronologischen Reihenfolge abzuwägen und sie mit ähnlichen Puzzleteilchen zu vergleichen, eine Sache drängte sich immer wieder nach vorn: Jillian Perry hatte andere Kinder sexuell missbraucht. Es war nichts Ungewöhnliches, dass die Opfer solcher Vergehen oder Verwandte der Opfer Rache übten. Und unter Umständen konnte diese Rache auch die Form eines Mordes annehmen.
Diese Möglichkeit ließ ihn nicht mehr los. Mehr als alles Bisherige an dem Fall kam sie seiner Denkweise entgegen. Endlich ein plausibles Motiv, das nicht sofort eine Welle von Zweifeln nach sich zog, das nicht mehr Probleme schuf, als es löste. Und sie war mit bestimmten Folgerungen verbunden. Zum Beispiel: Die Schlüsselfrage zu Hector Flores lautete vielleicht nicht, wie und wohin er verschwunden war, sondern woher und warum er gekommen war. Im Zentrum stand damit nicht mehr, welches Geschehen Flores in Tambury zu dem Mord getrieben hatte, sondern welches Geschehen in der Vergangenheit ihn nach Tambury gelockt hatte.
Gurney konnte nicht mehr stillsitzen. Er stieg aus und blickte nach hinten zum Haus, zur Garage mit dem Schieferdach, zum Spalierbogen vor dem hinteren Rasen. Waren es diese Dinge, die Hector Flores vor dreieinhalb Jahren bei seinem ersten Erscheinen vor Ashtons Herrensitz wahrgenommen hatte? Oder hatte er das Anwesen schon länger überwacht und Ashtons Kommen und Gehen beobachtet? Als er an die Tür klopfte, wie weit waren seine Pläne da schon gediehen? Hatte er es von Anfang an auf Jillian abgesehen? War Ashton als Leiter der Schule, die sie besuchte, nur das Mittel zum Zweck? Oder hatte er allgemeinere Absichten – vielleicht einen gewalttätigen Angriff auf einen oder mehrere Missbraucher, denen Mapleshade Schutz bot? Oder war doch Ashton das Ziel – der Psychiater, der Missbrauchern Unterschlupf gewährte? Hatte Jillians Ermordung vielleicht einen doppelten Zweck: ihren Tod und Ashtons Leid?
Unabhängig von den genauen Einzelheiten blieben die Fragen die Gleichen: Wer war dieser Hector Flores in Wirklichkeit? Welches schlimme Vergehen hatte diesen entschlossenen Mörder zu Ashtons Haus gelockt? Einen Mörder, dessen Verstellung und Voraussicht so weit reichte, dass er sich in Ashtons Cottage einnistete, um irgendwann zuzuschlagen. Der in seinem Netz unverdrossen auf den idealen Augenblick wartete.
Hector Flores. Eine geduldige Spinne.
Gurney ging hinüber zum Cottage und schloss die Tür auf.
Drinnen war es kahl wie in einer leeren Mietwohnung. Keine Möbel, keine Habseligkeiten, nur ein schwacher Geruch nach Reinigungs- oder Desinfektionsmittel. Vermutlich war es kurz nach der grausigen Tat saubergemacht und seither nicht mehr benutzt worden. Eine denkbar einfache Aufteilung: vorne ein großes Allzweckzimmer und hinten eine Küche und ein Schlafzimmer, dazwischen ein winziges Bad und eine Kammer. Im vorderen Zimmer ließ er den Blick langsam über Boden, Wände und Decke wandern. Er glaubte nicht daran, dass Plätze eine besondere Aura hatten, doch jeder Mordtatort, den er im Lauf der Jahre aufgesucht hatte, hatte ihn auf eine zugleich fremde und vertraute Art berührt.
Immer wenn er den Schauplatz eines Gewaltverbrechens mit zersplitterten Knochen und verspritzter Gehirnmasse betrat, erwachten in ihm bestimmte Gefühle: Abscheu, Mitleid, Zorn. Doch auch danach, wenn alles blank geputzt war und alle greifbaren Spuren des Gemetzels beseitigt waren, übten diese Orte eine tiefe, wenn auch ganz andere Wirkung auf ihn aus. Ein blutbesudeltes Zimmer traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Später, in keimfreiem Zustand, legte ihm derselbe Raum eine eisige Hand ums Herz und erinnerte ihn daran, dass im Zentrum des Universums grenzenlose Leere herrschte. Ein Vakuum mit einer Temperatur am absoluten Nullpunkt.
Er räusperte sich laut, um diese morbiden Grübeleien abzuschütteln und sich wieder
Weitere Kostenlose Bücher