Schließe deine Augen
Farmhaus zu, das über der Stelle mit den Goldruten am Ende der Wiese in Sicht kam. Als er den Ausknopf des Players drückte und innerlich fluchte, weil er das nicht schon früher getan hatte, klingelte sein Handy.
Auf dem Display stand REYNOLDS GALLERY .
Verdammt, was wollte die denn von ihm?
»Gurney hier.« Er fand, er klang geschäftsmäßig, mit einem Anflug von Misstrauen.
»Dave, ich bin’s, Sonya Reynolds.« Wie üblich verströmte ihre Stimme etwas derart magnetisch Anziehendes, dass sie in manchen Ländern dafür gesteinigt worden wäre. »Ich habe fabelhafte Nachrichten für dich«, schnurrte sie. »Und nicht nur so ein bisschen fabelhaft, sondern wirklich lebensverändernd fabelhaft. Wir müssen uns so schnell wie möglich treffen.«
»Hallo, Sonya.«
» Hallo ? Ich präsentiere dir ein Geschenk, wie du es noch nie bekommen hast, und dir fällt nur Hallo dazu ein?«
»Schön, wieder mal von dir zu hören. Worum geht es?«
Ihre Antwort war ein volles, musikalisches Lachen, das genauso sinnlich war wie alles andere an ihr. »Das ist mein Dave! Detective Dave mit den forschenden blauen Augen. Immer auf der Hut. Als wäre ich eine Schwerverbrecherin, die dir eine faule Geschichte vorsetzt.« Ihr leichter Akzent erinnerte ihn an das Alternativuniversum, das er während seiner Collegezeit in französischen und italienischen Filmen entdeckt hatte.
»Stellen wir ›faul‹ mal zurück. Bis jetzt hast du mir noch gar keine Geschichte vorgesetzt.«
Wieder dieses Lachen, das das Bild ihrer leuchtend grünen Augen heraufbeschwor. »Und das werde ich auch nicht, solange wir uns nicht sehen. Morgen. Unbedingt morgen. Aber du musst nicht zu mir nach Ithaca. Ich komme zu dir. Frühstück, Mittagessen, Abendessen – wann du willst. Sag mir einfach Bescheid, dann überlegen wir uns ein Lokal. Du wirst es bestimmt nicht bereuen, das garantiere ich dir.«
25
Salomes Tanz
Noch immer hatte er keinen endgültigen Namen für die Erfahrung. Dem Wort ›Traum‹ fehlte die Kraft. Zwar war es zum ersten Mal geschehen, als er gerade einschlief, die Sinne losgelöst von den schäbigen Anforderungen einer widerlichen Welt, das innere Auge befreit vom Alltag, doch damit endete auch schon die oberflächliche Ähnlichkeit zu normalen Träumen.
›Vision‹ war ein größerer, besserer Begriff dafür, aber auch er brachte nicht einmal einen Bruchteil der Wucht zum Ausdruck.
›Leitbild‹ erfasste eine bestimmte Facette, eine wichtige Facette, aber das Abgedroschene daran verzerrte den Sinn bis zur Unkenntlichkeit.
Vielleicht eine geführte Meditation? Nein. Das klang banal und langweilig – das Gegenteil der Erfahrung.
Ein lebender Mythos?
O ja. Das kam der Sache schon näher. Immerhin war es die Geschichte seiner Erlösung, das Paradigma seines neuen Lebenssinns. Die maßgebende Allegorie für seinen Kreuzzug.
Seine Inspiration.
Er musste nur das Licht ausschalten, die Augen schließen und sich dem unendlichen Potenzial der Dunkelheit anvertrauen.
Und die Tänzerin rufen.
In den Armen dieser Erfahrung, dieses lebenden Mythos, wusste er, wer er war – viel deutlicher als am Tag, wenn seine Augen und sein Herz von dem glitzerndem Tand und den schleimigen Schlampen der Welt abgelenkt wurden, von Lärm, Schmutz und Verlockung.
In den Armen dieser Erfahrung, in ihrer absoluten Klarheit und Reinheit, wusste er genau, wer er war. Selbst wenn er jetzt streng genommen ein Flüchtiger war, blieb diese Tatsache – genau wie der Name, unter dem ihn die gewöhnlichen Menschen kannten – zweitrangig gegenüber seiner wahren Identität.
Denn in Wahrheit war er Johannes der Täufer.
Allein bei dem Gedanken lief ihm ein Schauer über den Rücken.
Er war Johannes der Täufer.
Und die Tänzerin war Salome.
Seit er diese Erfahrung zum ersten Mal gemacht hatte, gehörte die Geschichte ihm, er konnte sie leben und ändern, wie er wollte. Sie musste nicht so blöd enden wie in der Bibel. Keineswegs. Das war das Schöne daran. Und das Aufregende.
Teil II –
Salomes Henker
26
Die Plausibilität des Ungewöhnlichen
»Nachdem ich den blöden Wichser kaltgemacht habe, seh ich, dass er nur einen Schuh anhat. Ich denk mir, Scheiße, was ist das denn? Dann merk ich, dass an dem Fuß mit Schuh keine Socke dran ist. Dafür ist an der Schuhsohle so ein schräges M, das Marconi-Logo, das heißt, der Schuh kostet zweitausend Dollar. An dem Fuß ohne Schuh ist dafür eine Socke. Kaschmir. Ich denk mir, Scheiße, wer macht so was? Wer
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