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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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zieht sich eine Kaschmirsocke und einen Zweitausenddollarschuh an – an zwei verschiedenen Füßen? Ich kann euch sagen, wer so was macht: ein bescheuerter Säufer, der Kohle hat.«
    Mit dieser Ansprache begann Gurney am Morgen sein Seminar. Ohne lange Vorreden mitten hinein ins Thema. Der Ansatz funktionierte. Wie gebannt hingen alle Augenpaare in dem grauen Betonraum der Polizeiakademie an ihm.
    »Neulich haben wir über den Heureka-Trugschluss gesprochen – die Tendenz von Menschen, viel eher das zu glauben, was sie selbst über einen anderen herausfinden, als das, was dieser andere ihnen erzählt. Wir sind darauf geeicht, dass die verborgene Wahrheit die echte Wahrheit ist. Bei einer verdeckten Operation können Sie sich diesen Umstand zunutze machen, wenn Sie die Zielperson die Dinge ›herausfinden‹ lassen, die sie glauben soll. Keine leichte Technik, aber äußerst wirkungsvoll. Heute beschäftigen wir uns mit einem anderen Faktor, der Plausibilität schafft, einer anderen Methode, um Ihre Tarngeschichte zu untermauern: ungewöhnliche, auffallende Einzelheiten.«
    Alle Anwesenen saßen auf den gleichen Plätzen wie vor zwei Tagen, bis auf die attraktive lateinamerikanische Polizistin, die in die erste Reihe umgezogen war und den übelgelaunten Detective Falcone in die zweite Reihe verdrängt hatte. Aus Gurneys Sicht ein erfreulicher Tausch.
    »Die Geschichte über den Toten mit dem Marconi-Logo an der Schuhsohle habe ich tatsächlich bei einer verdeckten Operation erzählt. Und die seltsamen kleinen Details darin haben alle ihren Grund. Hat jemand eine Idee, was diese Gründe sein könnten?«
    In der Mitte des Raums ging eine Hand nach oben. »Man klingt kalt und hart.«
    Weitere Meinungen folgten:
    »Man klingt, als hätte man ein Problem mit Trinkern.«
    »Und ein bisschen verrückt.«
    »Wie Joe Pesci in Good Fellas .«
    »Ablenkung«, meinte eine dünne, farblose Beamtin in der letzten Reihe.
    »Können Sie das näher erläutern?«
    »Wenn sich jemand auf einen Haufen komisches Zeug konzentriert und sich überlegt, warum der Typ nur einen Schuh anhatte, dann achtet er weniger auf die Hauptfrage, nämlich, ob Sie tatsächlich jemanden erschossen haben oder nicht.«
    »Man müllt ihn mit Quatsch zu«, fiel eine andere Frau ein.
    »Genau«, antwortete Gurney. »Dazu kommt noch was anderes …«
    Die hübsche Polizistin mit den glänzenden Lippen schaltete sich ein: »Das M auf der Schuhsohle?«
    Gurney musste unwillkürlich grinsen. »Richtig. Das M. Was ist damit?«
    »Es macht den Mord glaubwürdiger?«
    Hinter ihr verdrehte Falcone die Augen. Gurney hätte ihn am liebsten hinausgeworfen, aber er bezweifelte, dass er dazu überhaupt befugt war, und hatte keine Lust, sich mit der Akademie herumzustreiten.
    Also konzentrierte er sich auf seinen lateinamerikanischen Star, was ihm viel leichter fiel. »Und zwar wie?«
    »Allein durch die Vorstellung. Das Opfer liegt erschossen auf dem Boden. Deswegen ist die Schuhsohle sichtbar. Wenn ich mir das ausmale und mich über das Logo wundere, dann glaube ich bereits, dass der Typ erschossen wurde. Verstehen Sie? Sobald ich mir die Füße in dieser Position vorstelle, habe ich die Frage, ob er tatsächlich erschossen wurde, schon hinter mir. So ähnlich wie mit dem anderen Detail, das Sie ins Spiel gebracht haben – dass die Socke am anderen Fuß aus Kaschmir war. Kaschmir erkennt man nur, wenn man es anfasst. Also stelle ich mir den Killer vor, wie er aus Neugier am Fuß des Toten rumfummelt. Kaltschnäuzig. Unheimlicher Typ. Plausibel.«
    Das Restaurant, in dem sich Gurney mit Sonya Reynolds auf ihren Vorschlag hin verabredet hatte, lag in einem kleinen Nest bei Bainbridge, auf halbem Weg zwischen der Polizeiakademie in Albany und ihrer Galerie in Ithaca. Er hatte das Seminar um elf beendet und kam um Viertel vor eins im Galloping Duck an.
    Es bestand ein merkwürdiger Gegensatz zwischen dem ländlich niedlichen Namen des Lokals mit der riesigen, schielenden Entenfigur auf dem Rasen und der schlichten, fast klapprigen Einrichtung – fast wie bei ungleichen Eheleuten, die immer aneinander vorbeireden.
    Er wurde zu einem Zweiertisch an einem Fenster geführt. Von dort aus blickte man auf einen Teich, vielleicht die Heimat des namenstiftenden Federviehs, falls es je existiert hatte. Eine pummelige, fröhliche Jungkellnerin mit rosa Stachelhaar und unbeschreiblicher Neonkluft brachte zwei Speisekarten und zwei Gläser Eiswasser.
    Gurney zählte insgesamt neun

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