Schließe deine Augen
Tische in dem kleinen Speisesaal, von denen außer seinem nur zwei besetzt waren – einer von einem jüngeren Paar, das gebannt auf seine Blackberry-Displays starrte, der andere von einem Mann und einer Frau in mittleren Jahren aus der präelektronischen Ära, die stumm ihren Gedanken nachhingen.
Gurneys Blick wanderte hinaus zum Teich. Er nippte an seinem Wasser und sann über Sonya nach. Im Rückblick erschien ihm die Beziehung zu ihr – keine Beziehung im romantischen Sinn, sondern eine geschäftliche Partnerschaft mit reichlich unterdrückter Lust auf seiner Seite – als ein besonders seltsames Zwischenspiel in seinem Leben. Inspiriert von einem Kunstkurs Sonyas, den er zusammen mit Madeleine kurz nach dem Umzug in die Gegend besucht hatte, hatte er begonnen, aus den Porträts von Mördern Kunstdrucke herzustellen. Grundlage für seine Arbeit waren die nüchternen, zum Zeitpunkt der Verhaftung entstandenen Polizeifotos, die er subtil nachbereitete, um die gewalttätige Persönlichkeit der Abgebildeten zu illustrieren. Sonyas große Begeisterung für das Projekt und der Verkauf von acht Drucken zu je zweitausend Dollar über ihre Galerie hielten Gurney mehrere Monate bei der Stange, obwohl Madeleine der morbiden Thematik ebenso wenig abgewinnen konnte wie dem Eifer, mit dem er auf Sonyas Anregungen einging. Nun fielen ihm wieder die Spannungen von damals ein und dazu die Beinahekatastrophe am Ende.
Nicht nur hätte er durch den Mordfall Mellery beinahe sein Leben verloren, er hatte ihn auch mit seinem schweren Versagen als Ehemann und Vater konfrontiert. Durch diese schmachvolle Erfahrung war ihm klar geworden, dass Liebe das Einzige auf der Welt war, was zählte. Und da er seine künstlerischen Versuche und den Kontakt zu Sonya als störend für die Beziehung mit dem einzigen Menschen empfand, den er liebte, hatte er sie aufgegeben.
Doch jetzt, ein knappes Jahr später, war das gleißende Licht dieser Erkenntnis bereits trüber geworden. Natürlich wusste er, dass sie zutraf – Liebe war das Wichtigste –, aber er betrachtete sie nicht mehr als die einzige Sonne im Universum. Das allmähliche Verblassen dieser Einsicht hatte sich langsam vollzogen und machte sich nicht als Verlust bemerkbar. Eher fühlte es sich an wie die Entstehung einer realistischeren Perspektive, und das war doch sicher nicht schlecht. Schließlich konnte er ja gar nicht in dem Zustand emotionaler Intensität verharren, den die Mellery-Affäre erzeugt hatte. Es gab auch ein normales Leben, in dem man den Rasen mähen und Essen einkaufen musste – oder Geld verdienen musste, um Essen und Rasenmäher zu kaufen. Entsprach es nicht dem Wesen intensiver Erfahrungen, dass man allmählich zur Ruhe kam und den Faden des Alltags wiederaufnahm? Daher machte es Gurney keine großen Sorgen, dass sich die Vorstellung »Liebe ist das Einzige, was zählt.« inzwischen für ihn manchmal wie eine sentimentale Plattitüde anhörte.
Das hieß jedoch nicht, dass er jede Reserve aufgegeben hatte. In Sonya Reynolds schwelte eine Elektrizität, die nur ein sehr einfältiger Mann für harmlos halten konnte. Und als die Kellnerin mit dem pinkfarbenen Haar die wohlproportionierte, elegante Galeristin in den Speisesaal führte, summte diese Elektrizität in ihr wie in einem Kraftwerk.
»David, mein Lieber, du siehst … immer noch genauso aus!« Sie glitt auf ihn zu wie zu Walzermusik und bot ihm die Wange zum Küssen an. »Aber natürlich! Wie solltest du denn sonst aussehen? Du bist doch ein Fels in der Brandung!« Das letzte Wort sprach sie mit exotischem Entzücken aus, als hätte sie den idealen Ausdruck für einen schwer fasslichen Sachverhalt gefunden.
Sie trug eine eng anliegende Designerjeans, ein seidenartiges T-Shirt und eine betont zwanglose Jacke, die bestimmt nicht unter tausend Dollar gekostet hatte. Weder Schmuck noch Schminke lenkten von ihrer perfekten olivfarbenen Haut ab.
»Was ist?« Ihr Ton war neckisch, die Augen funkelten.
»Du siehst … fantastisch aus.«
»Eigentlich müsste ich böse auf dich sein, ist dir das klar?«
»Weil ich keine Bilder mehr gemacht habe?«
»Selbstverständlich. Diese wunderbaren Bilder. Bilder, die ich geliebt habe. Die meine Kunden geliebt haben. Die ich für dich verkauft habe. Und die ich weiter für dich verkaufen könnte. Aber du, du rufst mich ohne jede Vorwarnung an und erzählst mir, dass du nicht mehr kannst. Aus persönlichen Gründen. Kannst keine Bilder mehr machen, kannst nicht darüber
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