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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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denselben Modefotografen posiert hatten wie Jillian, konnte ein harmloser Zufall sein, selbst wenn sie beide ein Auge auf Hector geworfen hatten. Er schloss das Notebook und setzte es neben dem Stuhl auf den Boden.
    Madeleine kehrte mit den dampfenden Tellern zurück an den Tisch und ließ sich ihm gegenüber nieder.
    Er griff nach seiner Gabel und legte sie wieder weg. Dann wandte er sich der Terrassentür zu, aber draußen war es schon fast dunkel, und die Glasscheiben boten ihm statt eines Blicks auf den Garten nur das Spiegelbild eines Ehepaars am Tisch. Sein Blick fiel auf die strengen Falten in seinem Gesicht und den ernsten Mund.
    Madeleine beobachtete ihn. »An was denkst du?«
    »An nichts. Keine Ahnung. An meinen Vater.«
    »Was ist mit ihm?«
    Blinzelnd schaute er sie an. »Hab ich dir schon mal die Geschichte mit dem Kaninchen erzählt?«
    »Ich glaube nicht.«
    Er räusperte sich. »Als ich klein war – fünf, sechs, sieben –, habe ich meinen Vater immer gebeten, mir Sachen aus seiner Kindheit zu erzählen. Er ist in Irland aufgewachsen, und aus einem Kalender, den uns ein Nachbar geschenkt hatte, wusste ich, wie es in Irland aussieht: alles grün, felsig und wild. Für mich war es ein seltsamer, wunderbarer Ort – wahrscheinlich weil es ganz anders war als in der Bronx, wo wir gewohnt haben.« Gurney konnte den Widerwillen gegen das Stadtviertel seiner Kindheit, oder vielleicht gegen seine Kindheit insgesamt, nicht verhehlen. »Mein Vater hat nicht viel geredet, zumindest nicht mit mir und meiner Mutter, und es war fast unmöglich, etwas über seine Jugend aus ihm rauszubekommen. Dann, eines Tages, vielleicht damit ich ihm nicht mehr in den Ohren liege, hat er mir folgende Geschichte erzählt. Hinter dem Haus seines Vaters – so hat er es immer genannt, merkwürdig, weil er doch auch dort gelebt hat – war ein Feld, ein großes Grasfeld mit einer niedrigen Steinmauer, hinter der ein noch größeres Feld mit einem Bach in der Mitte und in der Ferne ein Berghang lagen. Das Haus war beige und klein und hatte ein dunkles Dach. Es gab weiße Enten und Narzissen. Jeden Abend habe ich im Bett gelegen und es mir vorgestellt – die Enten, die Narzissen, das Feld, den Berg –, hab mir gewünscht, dort zu sein, und mir vorgenommen, eines Tages hinzufahren.« Bitterkeit und Wehmut lagen in seiner Stimme.
    »Was war das für eine Geschichte?«
    »Hmm?«
    »Du hast gesagt, er hat dir eine Geschichte erzählt.«
    »Ja. Er und sein Freund Liam haben Kaninchen gejagt. Im Morgengrauen, wenn das Gras noch taufeucht war, sind sie mit Steinschleudern auf die Felder hinter dem Haus gegangen und haben Kaninchen gejagt. Die Kaninchen hatten schmale Pfade durch das hohe Gras, denen er und Liam gefolgt sind. Manchmal haben die Wege an Brombeersträuchern geendet, und manchmal sind sie unter die Steinmauer gelaufen. Er hat beschrieben, wie groß die Löcher zu den Kaninchenhöhlen waren und wie er und Liam den Kaninchen Fallen gestellt haben – an den Wegen, bei den Höhlen oder bei den Löchern, die sie unter die Steinmauer gegraben hatten.«
    »Haben sie auch mal eins gefangen?«
    »Ja, aber sie haben sie immer freigelassen.«
    »Und die Steinschleudern?«
    »Alle Schüsse knapp daneben.« Gurney verstummte.
    »Das ist die Geschichte?«
    »Ja. Die Sache ist … die Vorstellung davon hat sich mir so eingeprägt, ich habe so viel darüber nachgedacht, mich so oft in diese schmalen Pfade durchs Gras hineinversetzt, dass diese Bilder zu den lebhaftesten Eindrücken meiner ganzen Kindheit geworden sind.«
    Madeleine runzelte leise die Stirn. »Das machen wir doch alle. Ich habe lebhafte Erinnerungen an Dinge, die ich nie wirklich gesehen habe – an Szenen, die jemand beschrieben hat. Ich erinnere mich an das, was ich mir ausgemalt habe.«
    Er nickte. »Aber ich war noch nicht fertig. Jahre später, Jahrzehnte später, als ich schon über dreißig und mein Vater über sechzig war, habe ich das Ganze zufällig mal am Telefon erwähnt. ›Weißt du noch, wie du mir erzählt hast von dir und Liam, dass ihr im Morgengrauen mit Steinschleudern rausgeschlichen seid.‹ Er wusste gar nicht, wovon ich rede. Also habe ich weitere Details hinzugefügt: die Mauer, die Brombeeren, den Bach, den Berg, die Kaninchenpfade. ›Ach das‹, hat er geantwortet, ›das war doch alles Quatsch, das ist nie passiert.‹ Und dabei hat er in diesem bestimmten Ton gesprochen, der klarmachte, dass nur ein Dummkopf auf so was reinfallen kann.«

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