Schließe deine Augen
Simon Kale, leicht zu merken.
Simon Petrus. Simons Katze. O Gott!
Ihn schwindelte schon vor Erschöpfung.
Rasch trat er zur Spüle und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Kaffee erschien ihm erst wie eine gute, dann wie eine schlechte Idee. Am Tisch klappte er wieder das Notebook auf, und nach knapp einer Minute hatte er in einem Internetverzeichnis Kales Telefonnummer und Adresse entdeckt. Das Dumme war nur, dass ihn die Vernehmungsberichte länger als vermutet beschäftigt hatten. Es war bereits 11.02 Uhr. Anrufen oder nicht anrufen? Sofort oder am Morgen? Es drängte ihn danach, mit dem Mann zu reden und endlich einen konkreten Anhaltspunkt zu erhaschen, der vielleicht zu einem Stück Wahrheit führen konnte. Wenn Kale schon im Bett war, würde er sich über den Anruf bestimmt nicht freuen. Andererseits konnte gerade die späte Stunde die Dringlichkeit des Anliegens untermauern. Er wählte die Nummer.
Nach drei oder vier Klingelönen meldete sich eine androgyne Stimme. »Ja?«
»Simon Kale bitte.«
»Wer spricht da?« Die geschlechtsneutrale, wenngleich tendenziell eher männliche Stimme klang gereizt.
»David Gurney.«
»Kann ich Dr. Kale den Grund Ihres Anrufs nennen?«
»Mit wem rede ich?«
»Sie sprechen mit der Person, die ans Telefon gegangen ist. Und es ist schon ziemlich spät. Hätten Sie jetzt bitte die Freundlichkeit …« Aus dem Hintergrund ertönte ein Ruf, und nach kurzer Stille wurde der Hörer weitergereicht.
Eine pedantische, herrische Stimme verkündete: »Hier spricht Dr. Kale. Wer ist da?«
»David Gurney, Dr. Kale. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung, aber die Sache eilt. Ich arbeite als Berater an dem Mordfall Jillian Perry und versuche, mir ein Bild von Mapleshade zu machen. Sie wurden mir als Gewährsmann genannt.« Keine Reaktion. »Dr. Kale?«
»Berater? Was soll das heißen?«
»Ich wurde von der Familie Perry engagiert, um ihr eine unabhängige Einschätzung der Ermittlungen zu ermöglichen.«
»Tatsächlich?«
»Ich hatte gehofft, von Ihnen näheren Aufschluss über die Klientel und die allgemeine Philosophie von Mapleshade zu erhalten.«
»Für solche Aufschlüsse wäre wohl eher Scott Ashton der geeignete Ansprechpartner.« Diese Äußerung war durchdrungen von Bitterkeit, doch dann wurde sein Ton mit einem Mal deutlich verbindlicher. »Ich gehöre nicht mehr dem Lehrkörper von Mapleshade an.«
Gurney versuchte, diesen möglichen Zwiespalt für sich auszunutzen. »Ich dachte, dass Sie in Ihrer Position mehr Objektivität besitzen als jemand, der noch an der Schule tätig ist.«
»Zu diesem Thema möchte ich mich nicht am Telefon äußern.«
»Das kann ich gut verstehen. Ich wohne in Walnut Crossing und wäre gern bereit, zu Ihnen nach Cooperstown zu kommen, falls Sie eine halbe Stunde für mich erübrigen können.«
»Aha. Leider breche ich übermorgen zu einem einmonatigen Urlaub auf.« Es hörte sich eher nach einem Hindernis als nach einer Abfuhr an.
Gurney hatte den Eindruck, dass Kale nicht nur neugierig war, sondern vielleicht auch interessante Auskünfte geben konnte. »Es wäre mir eine große Hilfe, Doktor, wenn ich Sie davor noch sprechen könnte. Zufälligerweise habe ich morgen ein Treffen mit dem Bezirksstaatsanwalt. Falls Sie damit einverstanden wären, könnte ich vorher einen Abstecher zu Ihnen machen.«
»Sie haben ein Treffen mit Sheridan Kline?«
»Ja, und es wäre nützlich, zuerst Ihre Meinung zu hören.«
»Nun, ich denke … trotzdem müsste ich mehr über Sie erfahren, um zu wissen, ob es angemessen ist, diese Dinge mit Ihnen zu erörtern. Ihre Referenzen und so weiter.«
Gurney nannte die Höhepunkte seiner Karriere und den Namen eines stellvertretenden Leiters der New Yorker Polizei, mit dem Kale sprechen konnte. Halb entschuldigend erwähnte er sogar den fünf Jahre zurückliegenden Artikel in der Zeitschrift New York , der seinen Beitrag zur Klärung zweier berüchtigter Serienmordfälle rühmte. In dem Artikel wurde er als eine Kreuzung zwischen Sherlock Holmes und Dirty Harry dargestellt, was er selbst als peinlich empfand. Aber das Geschreibsel hatte auch seine nützlichen Seiten.
Kale erklärte sich schließlich bereit, sich am morgigen Freitag um 12.45 Uhr mit ihm zu treffen.
Als Gurney versuchte, sich auf die Vorbereitung für dieses Gespräch zu konzentrieren und im Kopf eine Liste wesentlicher Themen zu erstellen, merkte er zum tausendsten Mal, dass Erregung und Müdigkeit ein miserables Fundament für
Weitere Kostenlose Bücher