Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
Vom Netzwerk:
Gurneys Stimme bebte kaum merklich. Er hustete laut.
    »Er hat alles nur erfunden?«
    »Er hat alles nur erfunden. Jedes Fitzelchen. Und das Schlimmste daran ist, das war das Einzige, was er mir je über seine Kindheit erzählt hat.«

31
Magnet-Hunde
    Gurney lehnte im Sessel und betrachtete seine Hände. Sie waren faltiger und verbrauchter, als er gedacht hätte. Die Hände seines Vaters.
    Tief in Gedanken versunken räumte Madeleine den Tisch ab. Nachdem Töpfe und Geschirr in heißes Laugenwasser eingeweicht waren, drehte sie den Hahn zu. »Dann hatte er wohl eine ziemlich furchtbare Kindheit.«
    Gurney blickte zu ihr auf. »Könnte ich mir auch vorstellen.«
    »Ist dir klar, dass ich ihn in den zwölf Jahren unserer Ehe, in denen er noch gelebt hat, nur dreimal gesehen habe?«
    »So sind wir.«
    »Du meinst, du und dein Vater?«
    Er nickte vage, auf eine Erinnerung konzentriert. »Das Apartment in der Bronx, in dem ich aufgewachsen bin, hatte vier Räume – eine kleine Wohnküche, ein kleines Wohnzimmer und zwei kleine Schlafzimmer. Wir waren zu viert – Mutter, Vater, Großmutter und ich. Und weißt du was? Fast immer war nur einer in jedem Raum, außer wenn Mutter und Großmutter im Wohnzimmer zusammen ferngesehen haben. Aber selbst dann blieb mein Vater in der Küche und ich in einem Schlafzimmer.« Er lachte und brach ab, weil er in dem bitteren Laut einen Widerhall seines Vaters hören konnte. »Erinnerst du dich noch an diese Magnet-Hunde in Form von Terriern? Wenn man sie auf eine bestimmte Weise aufgereiht hat, haben sie sich angezogen, und andersrum haben sie sich abgestoßen. So war unsere Familie: vier kleine Terrier, die sich gegenseitig in die vier äußersten Winkel des Apartments gedrängt haben. So weit voneinander weg wie nur möglich.«
    Schweigend drehte Madeleine wieder das Wasser an und beschäftigte sich damit, das Geschir abzuwaschen und alles in das Trockengestell neben der Spüle zu stapeln. Als sie fertig war, schaltete sie die Hängelampe über der Kücheninsel aus und steuerte auf das entgegengesetzte Ende des Zimmers zu. Sie ließ sich in den Sessel beim Kamin nieder, knipste das Licht daneben an und zog aus einer Tragetasche auf dem Boden ihr aktuelles Strickprojekt, eine rote Wollmütze. Ab und zu spähte sie in Gurneys Richtung, blieb aber still.
    Zwei Stunden später ging sie zu Bett.
    Inzwischen hatte Gurney die Unterlagen zum Fall Perry aus dem Arbeitszimmer geholt, wo sie seit dem Abendessen mit den Meekers gelegen hatten. Er las die Zusammenfassungen der Befragungen vor Ort und die Protokolle der Vernehmungen, die in der BCI -Zentrale durchgeführt worden waren. Eine große Menge Material, aus dem sich aber kein schlüssiges Bild ergab.
    Einiges war praktisch sinnlos. Beispielsweise der »Nackt-im-Pavillon-Vorfall«, den fünf Bewohner von Tambury bezeugten. Alle fünf sagten aus, dass Flores einen Monat vor dem Mord in Ashtons Rasenpavillon beobachtet worden sei: auf einem Fuß stehend, die Augen geschlossen, die Hände in einer Art Yogapose zusammengelegt und splitternackt. In allen Protokollen hatte der Vernehmungsbeamte festgehalten, dass der jeweilige Befragte den Vorfall nicht selbst gesehen hatte, ihn aber als »allgemein bekannt« darstellte. Alle gaben an, über andere davon gehört zu haben. Einige wussten noch, wer ihnen davon erzählt hatte, andere nicht. Niemand konnte sich an den genauen Zeitpunkt erinnern. Ein weiteres, mehrfach – von zwei Zeugen sogar sehr ausführlich – geschildertes Ereignis drehte sich um einen Streit zwischen Ashton und Flores, der an einem Sommernachmittag auf der Hauptstraße des Dorfes stattgefunden haben sollte, doch auch das hatte keiner der Zeugen persönlich miterlebt.
    Eine Fülle Anekdoten und keine Augenzeugen.
    Fast jeder Befragte sah den Mord aus einer von wenigen stereotypen Perspektiven: das Frankenstein-Monster, die Rache des abgewiesenen Liebhabers, natürliche mexikanische Kriminalität, homosexuelle Labilität, die Zersetzung Amerikas durch Gewalt in den Medien.
    Niemand hatte einen Zusammenhang mit der besonderen Klientel von Mapleshade oder einem aus Jillians Vergangenheit herrührenden Rachemotiv angedeutet – den Bereichen also, wo Gurney den Schlüssel zu dem Verbrechen vermutete.
    Mapleshade und Jillians Vergangenheit: zwei allgemeine Überschriften, unter denen viel mehr Fragezeichen standen als Tatsachen. Vielleicht konnte ihm bei beiden der pensionierte Therapeut weiterhelfen, den Savannah erwähnt hatte.

Weitere Kostenlose Bücher