Schließe deine Augen
Mitternacht noch beschäftigt war, war es nicht leicht, ihn abzuschalten. Es konnte Stunden dauern, bis er seinen obsessiven Klammergriff um die Probleme des Tages lockerte.
Schon seit einer Dreiviertelstunde lag er im Bett, ohne dass das Kaleidoskop von Bildern und Fragen aus dem Fall Perry verblasste. Da fiel ihm auf, dass sich der Rhythmus von Madeleines Atem verändert hatte. Er war überzeugt, dass sie geschlafen hatte, als er ins Bett kam, doch jetzt hatte er das deutliche Gefühl, dass sie wach war.
Er hätte gern mit ihr geredet. Obwohl – eigentlich war er sich nicht so sicher. Vor allem war er sich nicht sicher, worüber er mit ihr reden sollte. Dann wurde ihm klar, dass er ihren Rat wollte, um aus dem Sumpf herauszufinden, in dem er sich immer mehr verrannte – ein Sumpf, der aus zu vielen wackeligen Geschichten bestand. Er brauchte ihren Rat, wusste jedoch nicht, wie er darum bitten sollte.
Leise räusperte sie sich. »Und was willst du mit dem ganzen Geld anfangen?« Sie hörte sich an, als hätten sie seit einer Stunde über diese Angelegenheit diskutiert. Für sie war es nicht untypisch, ein Thema auf diese Weise aufzugreifen.
»Die Hunderttausend, meinst du?«
Sie antwortete nicht, was bedeutete, dass sie die Frage für überflüssig hielt.
»Es ist nicht mein Geld«, antwortete er. »Es ist unser Geld. Auch wenn das alles noch Theorie ist.«
»Nein, es ist auf jeden Fall dein Geld.«
Er drehte ihr den Kopf auf dem Kissen zu, aber in dem mondlosen Dunkel konnte er nichts von ihrem Gesicht erkennen. »Warum sagst du das so?«
»Weil es stimmt. Es ist dein Hobby, aus dem auf einmal ein sehr lukratives Hobby geworden ist. Und es ist deine Galeriebekannte, deine Vertreterin, deine Agentin oder was auch immer. Und jetzt triffst du dich mit deinem neuen Fan, dem Kunstliebhaber. Also ist es auch dein Geld.«
»Ich verstehe nicht, warum du das so betonst.«
»Weil es wahr ist.«
»Es ist nicht wahr. Was mir gehört, gehört uns beiden.«
Sie gab ein verzagtes Lachen von sich. »Du verstehst es wirklich nicht.«
»Was?«
Sie gähnte und klang auf einmal sehr müde. »Es ist dein Kunstprojekt. Ich hab mich immer nur beschwert, wie viele schöne Tage du damit eingepfercht in deinem Arbeitszimmer verbringst und auf dem Monitor die Gesichter von Serienmördern anstarrst.«
»Das hat doch nichts mit unserer Einstellung zu Geld zu tun.«
»Hat es durchaus, sehr viel sogar. Du hast es verdient, es gehört dir.« Wieder gähnte sie. »Ich schlaf jetzt weiter.«
32
Heilloser Irrsinn
Am nächsten Tag brach Gurney um halb zwölf zu seiner Verabredung mit Simon Kale auf, was ihm etwas mehr als eine Stunde für die Fahrt nach Cooperstown ließ. Unterwegs trank er einen Magnumbecher der Abelard’s-Hausmischung, und als der Lake Otsego in Sicht kam, war er wach genug, um die klassischen Septemberbilder mit blauem Himmel und rötlichen Ahornbäumen wahrzunehmen.
Am von Schierlingstannen beschatteten Westufer leitete ihn sein GPS zu einem kleinen weißen Kolonialbau auf einer eigenen, zweitausend Quadratmeter großen Halbinsel. Die offenen Garagentüren zeigten einen funkelnden grünen Miata-Sportwagen und einen schwarzen Volvo. Am Rand der Auffahrt parkte ein roter VW Käfer. Als Gurney hinter dem Käfer stoppte, kam ein eleganter grauhaariger Mann mit zwei Leinenbeuteln aus der Garage.
»Detective Gurney, wie ich annehme?«
»Dr. Kale?«
»Richtig.« Nach einem flüchtigen Lächeln schritt er auf einem Plattenweg voran zur offenen Seitentür des Hauses. Drinnen wirkte alles sehr alt, aber sorgfältig gepflegt, mit den für das achtzehnte Jahrhundert typischen niedrigen Decken und handgefertigten Balken. Sie standen in einer Küche mit einem riesigen offenen Kamin und einem Chrom-und-Email-Gasherd aus den Dreißigerjahren. Aus einem anderen Zimmer drangen, auf Flöte gespielt, unverkennbar Bruchstücke von Amazing Grace .
Kale stellte seine Beutel auf den Tisch. Sie trugen das Logo des Adirondack Symphony Orchestras. In einem waren Gemüse und Baguette zu erkennen, im anderen Weinflaschen. »Die Bestandteile des Abendessens. Ich wurde zum Jagen und Sammeln ausgesandt«, bemerkte er schelmisch. »Ich koche nicht. Mein Partner Adrian ist sowohl Küchenchef als auch Flötist.«
»Ist er das?« Gurney neigte den Kopf in die Richtung der Töne.
»Nein, nein, Adrian spielt viel besser. Das muss die Zwölf-Uhr-Schülerin sein, die mit dem Käfer.«
»Mit dem …?«
»Das Auto vor Ihrem, das putzige
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