Schließe deine Augen
rote Ding.«
»Ach so«, antwortete Gurney. »Dann bleibt für Sie der Volvo und der Miata für Ihren Partner.«
»Sind Sie sicher, dass es nicht andersherum ist?«
»Ziemlich.«
»Interessant. Was an mir schreit Ihnen ›Volvo‹ entgegen?«
»Sie sind aus der Volvo-Seite der Garage gekommen.«
Kale stieß ein schrilles Gackern aus. »Dann sind Sie also kein Hellseher?«
»Eher nicht.«
»Mögen Sie Tee? Nein? Dann kommen Sie bitte mit in den Salon.«
Der Salon erwies sich als ein kleiner Raum neben der Küche. Zwei Lehnsessel mit Blumenmuster, zwei gepolsterte Fußbänke, ein Teetisch, ein Bücherschrank und ein kleiner, rot emaillierter Holzofen füllten ihn fast ganz aus. Kale winkte Gurney zu einem Sessel und ließ sich in dem zweiten nieder.
»Nun, Detective, der Zweck Ihres Besuchs?«
Zum ersten Mal fiel Gurney auf, dass Simon Kales Augen im Gegensatz zu seinem etwas überspannten Gehabe nüchtern und taxierend wirkten. Diesen Mann konnte man bestimmt nicht leicht um den Finger wickeln. Allerdings bot seine am Telefon verratene Abneigung gegen Ashton vielleicht einen hilfreichen Ansatz.
»Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, was der Zweck ist. Vielleicht ist es wie mit Pornografie: Man erkennt es, wenn man es sieht.« Gurney zuckte die Achseln. »Oder ich muss mit leeren Händen abziehen.«
Kale musterte ihn. »Übertreiben Sie es mal nicht mit der Bescheidenheit.«
Gurney war erstaunt von dem Seitenhieb, blieb aber höflich. »Ehrlich gesagt ist es mehr Ahnungslosigkeit als Bescheidenheit. Bei diesem Fall gibt es so verdammt vieles, was ich nicht weiß – was niemand weiß.«
»Außer der Schurke?« Kale schaute auf die Uhr. »Haben Sie Fragen, die Sie mir stellen wollen?«
»Mich würde alles interessieren, was Sie mir über Mapleshade erzählen können – wer die Schule besucht, wer dort arbeitet, worum es geht, was Sie dort gemacht haben, warum Sie gegangen sind.«
»Mapleshade vor oder nach der Ankunft von Scott Ashton?«
»Beides, aber vor allem zu der Zeit, als Jillian Perry Schülerin dort war.«
Gedankenvoll leckte sich Kale die Lippen. »Ich möchte es so zusammenfassen: In den achtzehn oder zwanzig Jahren, in denen ich an der Mapleshade Academy unterrichtet habe, war es eine nützliche therapeutische Umgebung für die Besserung eines breiten Spektrums leichter bis mäßiger emotionaler Probleme und Verhaltensauffälligkeiten. Vor fünf Jahren ist Scott Ashton mit großem Trara auf der Szene erschienen, ein berühmter Psychiater und avancierter Theoretiker, der die Schule zur ersten Adresse auf diesem Gebiet machen sollte. Doch nachdem er Fuß gefasst hatte, hat er den Schwerpunkt auf immer kränkere Jugendliche verlagert – gewalttätige, manipulative Missbraucher von Kindern, hochsexualisierte junge Frauen mit einer weit zurückreichenden Vergangenheit als Opfer und Täterinnen. Scott Ashton hat aus unserer Schule mit ihren großen Erfolgen bei Problemkindern ein bedrückendes Sammelbecken für Sexsüchtige und Soziopathen gemacht.«
Gurney fand, dass das nach einer sorgsam ausgedachten und durch Wiederholung ausgefeilten Rede klang, doch sie schien von echtem Gefühl getragen. Kales schelmisches Auftreten war zumindest vorübergehend von gerechtem Zorn verdrängt worden.
In die Stille nach der Tirade strömte aus dem anderen Zimmer die ergreifende Melodie von Danny Boy .
Leise sickerte sie in Gurney ein und raubte ihm die Kraft, bis er glaubte, die Befragung abbrechen und aus dem Haus fliehen zu müssen. Fünfzehn Jahre lag der Tod seines Sohnes zurück, und noch immer war das Lied unerträglich für ihn. Doch dann brach das Flötenspiel jäh ab. Kaum noch atmend saß er da wie ein Soldat im Schützengraben, der auf die nächste Granate wartet.
»Stimmt etwas nicht?« Kale beobachtete ihn neugierig.
Einer ersten Regung folgend wollte Gurney lügen, die Wunde verbergen. Aber dann überlegte er es sich anders. Die Wahrheit war die Wahrheit. Man musste sich zu ihr bekennen. »Ich hatte einen Sohn, der so hieß.«
Kale wirkte verblüfft. »Wie hieß?«
»Danny.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das Lied … es … Unwichtig. Eine alte Erinnerung. Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Sie haben gerade … den Übergang von einer Klientel zu einer anderen beschrieben.«
Kale runzelte die Stirn. »Übergang, wirklich ein wohlwollender Begriff für so eine massive Verlagerung.«
»Aber die Schule hat immer noch Erfolg?«
Kales Lächeln glitzerte wie blankes Eis. »Mit der
Weitere Kostenlose Bücher