Schlink,Bernhard
sie müssen wissen, wo sie
die Polizei anrufen und nach uns suchen lassen können, wenn wir uns nicht
melden. Wie willst du eigentlich reisen? Mit dem Auto? Das werden die Eltern
nie erlauben. Vielleicht wenn ich fahren würde, aber nicht, wenn du fährst.
Als du noch gesund warst, haben sie schon überlegt, die Polizei anzurufen, damit
du vorgeladen wirst, geprüft wirst, durchfällst und nicht mehr fahren darfst.
Jetzt, wo du krank bist...«
Sie
hörte ihrer Enkelin erstaunt zu. Wie ängstlich das kräftige Mädchen war, wie
fixiert auf die Eltern. Was für ein Ziel, was für eine Route, was für Stationen
sollte sie angeben? »Genügt nicht, wenn wir am Morgen sagen, wo wir am Abend
sind? Wenn wir morgen früh sagen, dass wir morgen Abend in Zürich sind?«
Sie
wollte nicht nach Zürich. Sie wollte auch nicht nach Süden. Sie wollte in die
Stadt, in der sie Ende der vierziger Jahre zu studieren begonnen hatte. Ja, die
Stadt lag im Süden. Aber sie war nicht der Süden. Im Frühjahr und Herbst sah
sie viel Regen und im Winter Schnee. Nur im Sommer war sie betörend schön.
So
hatte sie die Stadt jedenfalls vor ihrem inneren Auge. Seit dem Studium war sie
nicht mehr dort gewesen. Weil es sich nicht ergeben hatte? Weil sie sich
gescheut hatte? Weil sie die Erinnerung an den letzten Sommer nicht entzaubern
wollte, den Sommer mit dem Studenten, dem ein Arm fehlte und mit dem sie damals
auf dem Medizinerball und jetzt im Fiebertraum getanzt hatte? Er trug einen
dunklen Anzug, hatte den linken Ärmel in die linke Tasche gesteckt, führte sie
sicher und leicht mit der Rechten und war der beste Tänzer, mit dem sie an dem
Abend tanzte. Außerdem war er unterhaltsam, erzählte vom Verlust seines Arms
mit fünfzehn durch eine Bombe, als sei's ein Witz, und von den Philosophen,
die er studierte, als seien es schrullige Freunde.
Oder
war sie nicht mehr dort gewesen, weil sie nicht an den Schmerz des Abschieds
erinnert werden wollte? Er hatte sie nach dem Ball nach Hause gebracht und
unter der Tür geküsst, und sie hatten sich gleich am nächsten Tag und danach
an jedem Tag wiedergesehen, bis er plötzlich abreiste.
Es
war September, die meisten Studenten hatten die Stadt verlassen, sie war
seinetwegen geblieben und hatte ihren Eltern, die sie zu Hause erwarteten,
etwas von einem Praktikum vorgeschwindelt. Sie brachte ihn an den Zug, und er
versprach, zu schreiben, zu telefonieren und bald wieder zurück zu sein. Aber
er ließ nichts mehr von sich hören.
Emilia telefonierte auf dem Balkon mit den Eltern. Danach
berichtete sie, die Eltern seien einverstanden, erwarteten aber einen Anruf am
Morgen, einen am Mittag und einen am Abend. »Ich trage die Verantwortung, Großmutter,
und ich hoffe, du machst es mir nicht zu schwer.«
»Du
meinst, ich soll nicht weglaufen? Mich nicht betrinken? Mich nicht mit fremden
Männern einlassen?«
»Du
weißt schon, was ich meine, Großmutter.«
Nein,
ich weiß es nicht - aber sie sagte es nicht.
6
Am
nächsten Morgen nahm Emilia die
Bürde der Verantwortung leichter und freute sich auf die Reise. Dass es in die
Stadt ging, in der die Großmutter so alt gewesen war, wie sie jetzt war, fand
sie spannend. Während der Fahrt fing sie an, Fragen zu stellen: nach der Stadt,
der Universität, der Organisation des Studiums, dem Leben der Studenten, wie
sie gewohnt und was sie gegessen und wie sie sich vergnügt hatten, ob sie
nach dem Krieg eher Spaß haben oder eher Geld machen wollten, ob sie viel geflirtet
und wie sie verhütet hatten.
»Hast
du Opi im Studium getroffen?«
»Wir
sind uns schon als Kinder begegnet, unsere Eltern waren befreundet.«
»Klingt
nicht aufregend. Ich will's aufregend. Ich babe mit Felix Schluss gemacht, weil ich die Schulgeschichte nicht
ins Studium schleppen möchte. Ein neuer Abschnitt ist ein neuer Abschnitt.
Felix war okay, aber jetzt will ich mehr als okay. Ich habe gelesen, dass es
funktionieren kann, wenn die Eltern die Ehen der Kinder arrangieren. Für mich
wäre das nichts. Ich...«
»So
war's doch nicht. Unsere Eltern haben nicht unsere Ehe arrangiert, sondern
waren befreundet. Wir haben uns als Kinder ein paar Mal gesehen, das war
alles.«
»Ich
weiß nicht. Eltern geben den Kindern Botschaften, die den Kindern gar nicht
bewusst sind. Die auch den Eltern nicht bewusst sein müssen. Die Eltern denken
einfach, dass ihre Kinder von Familie und Stand und Geld zueinanderpassten und
es sich gut träfe, wenn sie heirateten. Sie denken das immer
Weitere Kostenlose Bücher