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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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Schwiegertöchter; die älteren Enkelinnen und
Enkel trafen sich im Gespräch über Abitur und Studium und die jüngeren über
Popmusik und Computerspiele. In jeder Gruppe lief sie eine Weile mit, zuerst
freundlich begrüßt und dann freundlich übersehen, weil das Gespräch dahin
zurückkehrte, wo sie es unterbrochen hatte. Es störte sie nicht. Aber während
sie früher glücklich gewesen wäre, dass ihre Lieben sich über ihre
verschiedenen Ehen und Familien hinweg so gut verstanden, wunderte sie sich
jetzt, worüber sie redeten. Popmusik und Computerspiele? Welches Studium
Reichtum verspricht? Ob man Botox versuchen soll? Wie man billig auf den
Seychellen Ferien macht?
    Der
Aperitif wurde auf der Terrasse serviert, das Essen an einer langen Tafel im
Nebenzimmer. Nach der Suppe hielt der Älteste eine Tischrede. Erinnerungen an
die Zeit, als die Kinder klein waren, Bewunderung für den Erfolg, mit dem sie
sich nach dem Auszug der Kinder in der Gemeinde engagiert hatte, Dank für die
Liebe, mit der sie die Kinder und Enkel und Enkelinnen begleitet habe und
begleite - ein bisschen trocken, aber gut gemeint und wohl gesprochen. Sie sah
ihn vor sich, wie er eine Sitzung oder eine Beratung leitete. Ihr Mann, ihre
Ehe, ihre Scheidung kamen nicht vor; es erinnerte sie an Fotografien aus der
russischen Revolution, die Stalin hatte retuschieren lassen und aus denen
Trotzki verschwunden war. Als hätte es ihn nie gegeben.
    »Denkt
ihr, ich könnte nicht ertragen, wenn ihr euern Vater erwähnt? Ich wüsste nicht,
dass ihr ihn und seine Frau trefft? Dass ihr seinen achtzigsten Geburtstag mit
ihnen gefeiert habt? Ihr wart mit ihnen auf dem Bild in der Zeitung!«
    »Du
hast ihn, nachdem er ausgezogen ist, nie mehr erwähnt. Da dachten wir...«
    »Ihr
dachtet? Warum habt ihr nicht gefragt?« Sie sah ihre Kinder prüfend an, eines
nach dem anderen, und die Kinder sahen irritiert zurück. »Statt zu fragen, habt
ihr gedacht. Ihr habt gedacht, wenn ich ihn nicht erwähne, bedeutet das, dass
ich nicht ertrage, wenn ihr ihn erwähnt. Habt ihr gedacht, dass ich
zusammenbrechen würde? Dass ich weinen oder schreien oder toben würde? Dass ich
euch verbieten würde, ihn zu treffen? Dass ich euch vor die Wahl stellen würde:
er oder ich?« Sie schüttelte den Kopf.
    Wieder
war es ihre jüngste Tochter, die redete. »Wir hatten Angst, du...«
    »Angst?
Ihr hattet Angst vor mir? Ich bin so stark, dass ich euch Angst mache, und so
schwach, dass ich nicht ertrage, wenn ihr euern Vater erwähnt? Das macht doch
keinen Sinn!« Sie merkte, dass sie lauter und schärfer wurde. Jetzt sahen auch
die Enkel und Enkelinnen sie irritiert an.
    Der
Älteste mischte sich ein. »Alles zu seiner Zeit. Jeder von uns hat seine
Geschichte mit Vater, jeder von uns freut sich darauf, einmal in Ruhe mit dir
über ihn zu reden. Aber jetzt wollen wir die Kellnerinnen nicht länger mit dem
nächsten Gang warten lassen; ihr Programm gerät sonst durcheinander.«
    »Das
Programm der Kellnerinnen...« Sie sah das Flehen im Gesicht ihrer jüngsten
Tochter und sprach nicht weiter. Es fiel ihr nicht schwer, über dem Salat, dem
Sauerbraten und der Mousse au
Chocolat nichts zu sagen. Alle redeten, und sie hatte Mühe herauszuhören, was
jemand neben ihr oder ihr gegenüber zu ihr sagte. So ging es ihr immer, wenn
viele redeten; ihr Arzt hatte einen Namen dafür, Partyschwerhörigkeit, und die
Auskunft, dass man nichts dagegen tun könne. Sie hatte gelernt, sich ihrem
Gegenüber freundlich zuzuwenden, gelegentlich verständnisvoll zu lächeln oder
zu nicken und zugleich über etwas anderes nachzudenken. Meistens merkte ihr
Gegenüber nichts.
    Vor
dem Kaffee stand Charlotte auf, das jüngste Enkelkind, und schlug mit dem
Löffel an das Glas, bis alle ihr zuhörten. Der Onkel habe eine Rede auf die
Mutter gehalten, sie wolle eine auf die Großmutter halten. Alle, die sie da säßen,
Enkel und Enkelinnen, hätten von der Großmutter lesen gelernt. Nicht Wörter
und Sätze lesen, das hätte man ihnen in der Schule beigebracht, sondern Bücher
lesen. Immer wenn sie bei ihr in Ferien gewesen seien, habe die Großmutter
ihnen vorgelesen. Sie sei mit dem Buch bis zum Ende der Ferien nie fertig
geworden, das Buch sei aber so spannend gewesen, dass sie selbst es hätten
fertiglesen müssen. Bald nach Beginn der Schule habe Großmutter dann ein Päckchen
mit einem weiteren Buch desselben Autors geschickt, das sie natürlich wieder
lesen mussten. »Das war so schön, dass wir Opi und

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