Schlink,Bernhard
und der Zauberin kamen Fetzen der Märchen,
die sie geliebt hatte: Schneeweißchen
und Rosenrot, Brüderchen und Schwesterchen, Allerleirauh, Aschenputtel,
Dornröschen. Als der Wind durch das offene Fenster wehte, kam
ihr die Königsjungfer in den Sinn, die dem Wind gebieten konnte: »Weh, weh,
Windchen, nimm Kürdchen sein Hütchen« - weiter wusste sie nicht. Als sie jung
war, fuhr sie gut Ski; in einem Traum glitt sie einen weißen Hang hinab, hob ab
und schwebte über Wälder und Täler und Dörfer. In einem anderen Traum musste
sie jemanden treffen, wusste nicht, wen und wo, nur dass es bei Vollmond war
und wie das Lied begann, an dem sie einander erkennen sollten; beim Aufwachen
war ihr, als habe sie den Traum schon einmal geträumt, als sie das erste Mal
verliebt war, und sie erinnerte sich an die ersten Takte eines alten Schlagers.
Die Melodie begleitete sie den ganzen Tag. Einmal träumte sie, sie sei auf
einem Ball und tanze mit einem Mann, dem ein Arm fehlte, der sie mit dem
anderen aber so sicher und so leicht führte, dass sie die Beine nicht bewegen
musste; sie wollten in den Morgen tanzen, aber ehe der Morgen im Traum graute,
wachte sie im wirklichen Morgengrauen auf.
Oft
saß Emilia am
Bett und hielt ihre Hand. Wie geborgen, wie leicht ihre Hand sich in den
kräftigen Händen des kräftigen Mädchens fühlte! Die Dankbarkeit dafür, dass sie
so gehalten, gepflegt und versorgt wurde, dass sie schwach sein durfte, dass
sie nichts sagen und nichts tun musste, trieb sie zu Tränen. Weinte sie, konnte
sie lange nicht aufhören; aus den Tränen der Dankbarkeit wurden Tränen der
Trauer um das, was im Leben nicht geworden war, wie es hätte werden sollen, und
Tränen der Einsamkeit. Es tat ihr wohl, von Emilia gehalten zu werden.
Zugleich war sie so einsam, als wäre Emilia nicht
da.
Als
es ihr wieder besserging und die Kinder sie besuchten, eines nach dem anderen,
war es ebenso. Die Kinder waren da, aber sie war so einsam, als wären sie nicht
da. Das ist das Ende der Liebe, dachte sie. Mit dem anderen so einsam sein, als
wäre man ohne ihn.
Emilia blieb, machte zuerst kleinere und dann größere Spaziergänge
mit ihr, begleitete sie zum Mittagessen ins Restaurant des Stifts und sah
abends mit ihr fern. Sie war immer um sie.
»Musst
du nicht studieren? Oder Geld verdienen?«
»Ich
hatte einen Job. Aber deine Kinder haben beschlossen, dass ich den Job sausen
lasse und mich um dich kümmere, und zahlen mir, was ich anders verdient hätte.
War kein guter Job, ist nicht schade um ihn.«
»Wie
lange geht deine Stelle bei mir?«
Emilia lachte. »Bis deine Kinder den Eindruck haben, dir geht's
wieder gut.«
»Aber
wenn ich davor schon merke, dass es mir wieder gutgeht?«
»Ich
dachte, du freust dich, dass ich hier bin.«
»Ich
mag nicht, wenn andere besser wissen als ich, wie es mir geht und was ich
brauche.«
Emilia nickte. »Das verstehe ich.«
5
Könnte
sie Emilia rausekeln?
Die Kinder würden es als Zeichen nehmen, dass sie immer noch krank war, wie
sie sich ihr Verhalten am Geburtstag damit erklärt hatten, dass ihre Krankheit
ausgebrochen war. Könnte sie Emilia bestechen,
die Kinder von ihrer Genesung zu überzeugen?
»Nein«,
lachte Emilia, »wie
soll ich den Eltern erklären, dass ich plötzlich Geld habe? Wenn ich es ihnen
nicht erzähle und tue, als hätte ich es nicht, muss ich wieder arbeiten.«
Am
Abend versuchte sie es noch mal. »Könnte ich dir das Geld nicht geschenkt
haben?«
»Du
hast noch nie einem von uns etwas geschenkt, das du nicht allen anderen auch
geschenkt hast. Als wir klein waren, hast du nicht einmal einen Ausflug mit
einem von uns gemacht, den du nicht mit allen anderen über die nächsten zwei,
drei Jahre auch gemacht hast.«
»Das
war ein bisschen übertrieben.«
»Vater
sagt immer, ohne dich wäre er nicht Richter geworden.«
»Trotzdem
war es ein bisschen übertrieben. Darfst du mit mir eine Reise machen? Eine
Reise, damit es mir bessergeht?«
Emilia schaute zweifelnd. »Du meinst, eine Kur?«
»Ich
möchte raus. Die Wohnung fühlt sich wie ein Gefängnis an und du dich wie die
Wärterin. Tut mir leid, aber es ist so und wäre so, selbst wenn du eine Heilige
wärst.« Sie lächelte. »Nein, es ist so, obwohl du eine Heilige bist. Ohne dich
hätte ich es nicht geschafft.«
»Wohin
willst du?«
»Nach
Süden.«
»Ich
kann Vater und Mutter doch nicht sagen, dass ich mit dir nach Süden fahre! Wir
brauchen ein Ziel und eine Route und Stationen, und
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