Schlink,Bernhard
für sie zu finden, ihnen nicht bei den Hausaufgaben
zu helfen? Und bei euch Enkeln und Enkelinnen - hätte ich meine Pflichten...«
»Deine
Pflichten? Sind wir nur Pflichten für dich? Waren deine Kinder nur Pflichten
für dich?«
»Nein,
ich liebe euch natürlich. Ich...«
»Das
klingt, als sei für dich auch die Liebe nur eine Pflicht.«
Sie
fand, dass Emilia sie
zu oft unterbrach. Zugleich wusste sie nicht weiter. Sie verließen die
Landstraße und fädelten sich in den dichten Verkehr der Autobahn ein. Emilia fuhr schnell, schneller als auf der Hinfahrt und manchmal
waghalsig und rücksichtslos.
»Kannst
du bitte langsamer fahren? Ich habe Angst.«
Mit
einem beängstigenden Schwenk zog Emilia auf
die rechte Fahrbahn zwischen zwei langsame Lastwagen. »Zufrieden?«
Sie
war müde, wollte nicht einschlafen und schlief doch ein. Sie träumte, sie sei
ein kleines Mädchen und laufe an der Hand ihrer Mutter durch eine Stadt. Obwohl
sie die Straßen und Häuser kannte, fühlte sie sich in der Stadt fremd. Das
kommt daher, dachte sie im Traum, dass ich noch so klein bin. Aber es half
nichts; je länger sie liefen, desto bedrückter und ängstlicher wurde sie. Dann
erschreckte sie ein großer schwarzer Hund mit großen schwarzen Augen, und sie
wachte mit einem Schreckenslaut auf.
»Ist
was, Großmutter?«
»Ich
habe geträumt.« Sie sah auf einem Schild, dass es nicht mehr weit nach Hause
war. Emilia hatte,
während sie schlief, wieder auf die linke Fahrbahn gewechselt.
»Ich
bringe dich nach Hause und mache mich dann auf.«
»Zu
deinen Eltern?«
»Nein.
Ich muss auf den Studienplatz nicht zu Hause warten. Ich habe ein bisschen
Geld und besuche meine Freundin in Costa Rica. Ich wollte schon immer Spanisch
lernen.«
»Aber
heute Abend...«
»Heute
Abend fahre ich nach Frankfurt und bleibe bei einer anderen Freundin, bis ich
einen Flug kriege.«
Sie
hatte das Gefühl, sie müsse etwas sagen, Ermutigendes oder Warnendes. Aber sie
konnte nicht so schnell denken. Machte Emilia es
richtig oder falsch? Sie bewunderte Emilias Entschluss,
aber das konnte sie doch nicht sagen, solange sie nicht wusste, dass er
richtig war.
Als Emilia sie nach Hause gebracht
und gepackt hatte, brachte sie sie zur Bushaltestelle. »Ich danke dir. Ohne
dich wäre ich nicht gesund geworden. Ohne dich hätte ich die Reise nicht
gemacht.«
Emilia zuckte die Schultern. »Kein Problem.«
»Ich
habe dich enttäuscht, nicht wahr?« Sie suchte nach Worten, die alles in Ordnung
brächten. Aber sie fand keine. »Du machst es besser.« Der Bus kam, sie nahm Emilia in die Arme, und Emilia legte
die Arme um sie. Sie stieg vorne ein und brauchte eine Weile, bis sie es im Bus
nach hinten schaffte. Bevor der Bus hinter der Kurve verschwand, kniete sie auf
der letzten Bank und winkte.
13
Der
Sommer blieb schön. Abends zogen oft Gewitter auf, und sie setzte sich auf den
überdachten Balkon, sah die Wolken dunkel werden, den Wind die Bäume beugen
und die Tropfen fallen, zuerst einzeln und dann in dichtem Guss. Wenn die
Temperatur sank, legte sie sich eine Decke über. Manchmal schlief sie ein und
wachte erst auf, wenn schon Nacht war. An den Morgen nach den Gewittern war die
Luft berauschend frisch.
Sie
dehnte ihre Spaziergänge aus und machte Pläne für eine Reise, konnte sich aber
nicht entschließen. Von Emilia kam
eine Postkarte aus Costa Rica. Die Eltern verziehen ihr nicht, dass sie Emilia hatte abreisen lassen. Sie hätte sich zumindest die Adresse
der Frankfurter Freundin geben lassen müssen, damit man sie vor dem Abflug
hätte finden und mit ihr reden können. Schließlich sagte sie, sie wolle nichts
mehr davon hören, und wenn sie nicht aufhören könnten, davon zu reden, sollten
sie sie nicht mehr besuchen.
Nach
ein paar Wochen kam ein Päckchen von Adalbert. Sie mochte das schmale, in
schwarzes Leinen gebundene Buch, sie sah es gerne an und fasste es gerne an.
Sie mochte auch den Titel: »Hoffnung und Entscheidung«. Aber sie wollte nicht
wirklich wissen, was Adalbert dachte.
Wirklich
gerne hätte sie gewusst, ob er noch so gut tanzte. Eigentlich konnte es nicht
anders sein. Sie hätte, als sie ihn besuchte, noch ein bisschen bleiben, das
Radio anmachen und mit ihm tanzen sollen, aus dem Zimmer auf die Terrasse, von
ihm mit dem einen Arm so sicher und so leicht geführt, als schwebe sie.
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