Schlink,Bernhard
Anni überredet haben, es
auch so zu machen. Vielen Dank, Großmutter, dass du uns zu Lesern gemacht und
uns die Freude an Büchern gebracht hast!«
Alle
klatschten, Charlotte kam mit dem Glas um den Tisch. »Auf viele, viele Jahre,
Großmutter!« Sie stieß mit ihr an und gab ihr einen Kuss.
In
den Moment der Stille, als Charlotte zu ihrem Platz zurückging und ehe die
Gespräche wiederaufgenommen wurden, fragte sie: »Wer ist Anni?« Sie fragte es,
obwohl sie wusste, dass es die zweite Frau ihres ehemaligen Manns sein musste
und dass ihre Frage die anderen verlegen machen würde.
»Anna
ist Vaters Frau. Die Kinder haben aus Opa Opi und dann auch gleich aus Anna
Anni gemacht.« Der Älteste sagte es sachlich und ruhig.
»Vaters
Frau? Du meinst nicht mich - meinst du Vaters zweite Frau? Oder gibt es schon
eine dritte?« Sie wusste, dass sie schwierig war. Sie wollte es nicht sein,
konnte aber nicht aufhören.
»Ja,
Anna ist Vaters zweite Frau.«
»Anni«,
sie betonte das I ironisch, »Anni. Vermutlich muss ich dankbar sein, dass ihr
nicht Granny zu
ihr sagt und sie zur zweiten Großmutter macht. Oder nennt ihr sie manchmal
Granny?« Als niemand antwortete, fragte sie nach. »Charlotte, wie ist das,
sagst du zu Anni manchmal Granny?«
»Nein,
Großmutter, wir sagen zu Anni nur Anni.«
»Wie
ist sie so, die Anni, zu der ihr nicht Granny sagt?«
Ihre
Jüngste mischte sich ein. »Können wir damit nicht bitte aufhören?«
»Wir?
Nein, weil wir damit nicht angefangen haben, können wir damit auch nicht
aufhören. Ich habe damit angefangen.« Sie stand auf. »Ich kann damit auch
aufhören. Ich lege mich ein bisschen hin - holt ihr mich in zwei Stunden mit
dem Auto zum Tee?«
4
Sie
lehnte die Angebote, sie zu begleiten, ab und ging alleine. Was war aus ihren
guten Vorsätzen geworden? Immerhin war sie aufgestanden und gegangen. Sie hätte
lieber weitergemacht - ob sie ihre Kinder dazu gebracht hätte, außer sich zu
geraten? Den Richter dazu, die Stimme zu erheben und mit dem Fuß aufzustampfen?
Den Museumsdirektor, Geschirr auf den Boden oder an die Wand zu werfen? Die
Töchter, sie nicht mehr flehentlich, sondern hasserfüllt anzusehen?
Als
sie vom ältesten Enkelkind abgeholt wurde, wollte sie niemanden mehr irritieren
und provozieren. Ferdinand erzählte auf der kurzen Fahrt vom Examen, das er in
wenigen Wochen ablegen musste. Sie hatte ihn immer besonders ausgeglichen
gefunden. Jetzt gestand sie sich ein, dass er besonders langweilig war. Sie
war müde.
Am
Tag nach dem Fest wurde sie krank. Kein Schnupfen oder Husten, keine
Magenschmerzen oder Verdauungsprobleme. Sie hatte einfach hohes Fieber, gegen
das weder fiebersenkende Mittel noch Antibiotika halfen. »Ein Virus«, sagte der
Arzt und zuckte die Schultern. Aber er rief den ältesten Sohn an, der seine
zweite Tochter schickte, die sich ihrer annehmen sollte. Emilia war achtzehn und wartete auf ihren Studienplatz in Medizin.
Emilia wechselte die Bettwäsche, rieb Rücken und Arme mit Franzbranntwein
ein und machte kalte Wickel um die Waden. Sie brachte morgens frischgepressten
Orangensaft, mittags frischgeriebenen Apfel, abends Rotwein, in den sie ein
Eigelb geschlagen hatte, und immer wieder Pfefferminz oder
Kamillentee. Mehrmals am Tag lüftete sie, mehrmals am Tag bestand sie auf ein
paar Schritten durchs Zimmer und über den Gang. Einmal am Tag ließ sie ein Bad
einlaufen, hob sie auf und trug sie hin. Emilia war ein kräftiges Mädchen.
Es
dauerte fünf Tage, bis das Fieber zu sinken begann. Sie wollte nicht sterben.
Aber sie war so müde, dass ihr gleichgültig war, ob sie leben oder sterben,
gesund werden oder krank bleiben würde. Vielleicht wollte sie sogar lieber
krank bleiben als gesund werden. Sie liebte das fiebrige Dämmern, zu dem sie
aufwachte und aus dem sie in den Schlaf glitt und das alles dämpfte, was sie
sah und hörte. Mehr noch, es verwandelte das sich Wiegen des Baums vor dem
Fenster in den Tanz einer Fee und den Gesang der Amsel in den Ruf einer
Zauberin. Zugleich liebte sie die Intensität, mit der sie die Hitze des
Badewassers und die Kühle des Franzbranntweins auf ihrer Haut spürte. Sogar den
Frost, der sie in den ersten Tagen ein paar Mal schüttelte, mochte sie; er ließ
sie nur noch nach Wärme verlangen und nichts mehr sonst denken oder fühlen. Ah,
und wenn ihr dann tatsächlich warm wurde!
Sie
wurde wieder jung. Die Fieberbilder und -träume waren die Fieberbilder und
-träume ihrer Kindheit. Mit der Fee
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