Schloss aus Glas
Rebstock pflücken und nachts draußen unter den Sternen schlafen konnte.
Maureen wollte nicht, dass einer von uns sie zum Bus brachte. Am Tag ihrer Abreise stand ich im Morgengrauen auf. Ihr Bus fuhr in aller Herrgottsfrühe, und ich wollte wach sein, damit ich ihr in Gedanken Auf Wiedersehen sagen konnte. Ich stellte mich ans Fenster und blickte hinauf in den kalten, nassen Himmel. Ich fragte mich, ob sie an uns dachte und ob sie uns vermissen würde. Ich hatte damals die Idee, sie nach New York zu holen, mit gemischten Gefühlen betrachtet, aber ich war einverstanden gewesen, und als sie dann da war, hatte ich viel zu viel mit mir selbst zu tun gehabt, um mich um sie zu kümmern. Es tut mir Leid, Maureen, sagte ich, als die Abfahrtszeit kam, es tut mir alles so Leid.
Danach sah ich Mom und Dad kaum noch. Auch Brian bekam wenig von ihnen mit. Er hatte geheiratet und sich auf Long Island ein baufälliges viktorianisches Haus gekauft, das er renovierte. Er hatte mit seiner Frau eine kleine Tochter, und die beiden waren jetzt seine Familie. Lori lebte noch immer in ihrer alten Wohnung und hatte mehr Kontakt zu Mom und Dad als Brian und ich, aber auch sie ging ihre eigenen Wege. Seit Maureens Gerichtsverhandlung hatten wir uns nicht mehr gesehen. An dem Tag war irgendetwas in uns allen zerbrochen, und danach stand keinem von uns mehr der Sinn nach Familientreffen.
Als Maureen etwa ein Jahr in Kalifornien war, rief Dad mich eines Tages in der Redaktion an. Er sagte, er müsse etwas Dringendes mit mir besprechen und wolle mich sehen.
»Geht das nicht am Telefon?«
»Ich muss dich sehen, Schätzchen.«
Dad bat mich, am Abend zur Lower East Side zu kommen. »Und wenn es nicht allzu große Umstände macht«, fügte er hinzu, »könntest du unterwegs eine Flasche Wodka besorgen?«
»Ach, da liegt der Hund begraben.«
»Nein, nein, Schätzchen. Ich muss wirklich mit dir reden. Aber gegen ein, zwei Gläschen Wodka hätte ich nichts einzuwenden. Nichts Teures, der billigste Fusel reicht. Eine kleine Flasche wäre schön. Eine große toll.«
Ich war ziemlich sauer über Dads listige Bitte um eine Flasche Wodka - am Schluss des Telefonats damit rauszurücken, als wäre es ihm im letzten Moment eingefallen, dabei hatte ich den Verdacht, dass es wahrscheinlich der einzige Sinn und
Zweck unseres Treffens war. Anschließend rief ich Mom an, die noch immer nichts Stärkeres als Tee trank, und fragte sie, ob ich Dad die Bitte erfüllen solle.
»Dein Vater ist der, der er ist«, sagte sie. »Es ist zu spät, ihn jetzt noch umzukrempeln. Hab ein bisschen Nachsicht mit dem Mann.«
Am Abend kaufte ich in einem Getränkeladen eine Zweiliterflasche vom billigsten Fusel, den sie dahatten, ganz nach Dads Wunsch, und fuhr dann mit dem Taxi zur Lower East Side. Ich stieg die dunkle Treppe hinauf und drückte die unverschlossene Tür auf. Mom und Dad lagen unter einem Haufen dünner Decken im Bett. Ich hatte das Gefühl, dass sie schon den ganzen Tag dort lagen. Mom kreischte, als sie mich sah, und Dad entschuldigte sich für die Unordnung und sagte, wenn er doch bloß mal was von Moms ganzem Plunder ausräumen dürfte, dann hätten sie endlich mal wieder Platz zum Atmen, woraufhin Mom Dad als Penner bezeichnete.
»Schön, euch mal wieder zu sehen«, sagte ich, als ich ihnen einen Kuss gab. »Ist ja ein Weilchen her.«
Mom und Dad brachten sich in eine sitzende Position. Ich sah, dass Dad auf die Papiertüte in meiner Hand schielte, und ich gab sie ihm.
»Eine Jumboflasche«, sagte Dad mit vor Dankbarkeit erstickter Stimme, als er die große Flasche hervorholte. Er schraubte den Deckel ab und nahm einen langen, tiefen Schluck. »Danke, mein Schatz«, sagte er. »Du bist so gut zu deinem alten Herrn.«
Mom trug einen dicken Pullover mit Zopfmuster. Die Haut an ihren Händen hatte tiefe Risse, und ihr Haar war ungekämmt, aber ihr Gesicht hatte eine gesunde rosa Farbe, und ihre Augen waren klar und strahlend. Im Vergleich zu ihr sah Dad ausgemergelt aus. Die Haare, die bis auf die leicht ergrauten Schläfen noch immer tiefschwarz waren, hatte er nach hinten gekämmt, aber seine Wangen waren eingefallen, und er hatte einen dünnen Bart. Er war immer glatt rasiert gewesen, sogar als er auf der Straße gelebt hatte.
»Wieso lässt du dir einen Bart wachsen, Dad?«, fragte ich.
»Jeder Mann sollte sich irgendwann einen wachsen lassen.«
»Aber wieso jetzt?«
»Jetzt oder nie«, sagte Dad. »Weil ich nämlich nicht mehr lange
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