Schlüsselfertig: Roman (German Edition)
hätte es mir sowieso nicht erlaubt.
Mein Tagesablauf war vom Aufstehen bis zum Schlafengehen rigoros geregelt: Sobald ich aus der Schule kam, gab es Mittagessen, Abwasch, Hausaufgaben. Drei Nachmittage in der Woche musste ich in die Ballettstunde. Besonders begabt war ich nicht, aber ständige Übung führte auch bei mir zu Soloauftritten. An solchen Abenden zog Mutter ihr bestes Kostüm an und setzte sich in die erste Reihe.
Samstags war Hausputz, und am Sonntag gingen wir vormittags in die Kirche und am Nachmittag spazieren. Seltsamerweise waren es diese Spaziergänge, die mir eine unerwartete Möglichkeit eröffneten, in eine eigene Welt zu flüchten.
Es war ein Sonntag im Mai, die Wiesen hatten sich mit einem faszinierenden Blütenteppich überzogen, aus dem hier und da ein strahlendes Hellblau leuchtete. Plötzlich wollte ich wissen, wie diese besondere Blume hieß. Sie besaß doch sicher einen Namen? Mutter wusste ihn nicht, aber zu meiner maßlosen Verblüffung lag zwei Wochen später auf meinem Geburtstagstisch, zwischen den üblichen Garnituren Unterwäsche und dem Geburtstagskuchen, ein dickes Bestimmungsbuch. Was blüht denn da? war meine Eintrittskarte in die Welt der Botanik.
Von einem Tag auf den anderen hatte sich mein Sehen verändert. Meine Augen glitten nicht mehr gleichgültig über das Farbkaleidoskop, sie nahmen Einzelheiten auf, die ich vorher zwar gesehen, aber nicht wahrgenommen hatte. Augentrost, Klappertopf, Wiesensalbei, Günsel – die Vielzahl der Pflanzen und Namen verwirrte mich, doch mit der Zeit wurden sie mir alle vertraut. Und ich begann, sie Bekannten zuzuordnen. Unsere Englischlehrerin erinnerte mich an den Wiesenstorchschnabel: schöne, blaue Blüten, aber keine Standfestigkeit. Der Deutschlehrer dagegen war eine typische Buche: geradlinig, berechenbar und hart. Meine Banknachbarin versah ich mit dem Etikett Gänsedistel. Sie wirkte auf den ersten Blick nett und umgänglich, aber man kam ihr besser nicht zu nah. Nach dem Schulabschluss absolvierte ich lustlos, aber pflichtschuldig die Banklehre, die meine Mutter für mich geplant hatte. Es gab kein Entkommen in ein Leben, wie ich es mir erträumte. Ab sofort bestimmten Mutter und der Filialleiter meine tägliche Routine, in der ich nach außen resigniert hatte.
Wenigstens ermöglichte mir der Teil meines Gehalts, den ich behalten durfte, die Anschaffung und den Unterhalt eines Gewächshauses. Hinter dem breiten Fliederbusch fiel es nicht weiter auf. Dort richtete ich mir mein eigenes Reich ein. Seit einigen Jahren schon sammelte ich Fuchsien und Orchideen, die mich beide wegen ihrer unglaublichen Vielfalt faszinierten. Ich besaß sogar ein seltenes Exemplar der Fuchsia thymifolia mit winzigen weißen Blüten, das ich selbst aus Samen des botanischen Gartens gezogen hatte. Unsere Nachbarn waren allerdings mehr an Ablegern der Prachtformen interessiert, die zum Teil handtellergroße, gefüllte Blüten entwickelten.
Meine Orchideen halfen mir über die Wintermonate, wenn meine übrigen Schützlinge Winterschlaf hielten. Für sie heizte ich einen abgetrennten Teil des Gewächshauses auf Temperaturen, die Mutter einmal als »unanständig« bezeichnet hatte. Die feuchte Wärme war ihr so zuwider, dass sie strikt ablehnte, mein Reich zu betreten.
Der ursprüngliche Rasen des restlichen Teils unseres winzigen Reihenhausgärtchens hatte einer Iris-Sammlung, den Lilien und den Dahlien weichen müssen. Ihre auffällige Farbenpracht leuchtete mir immer schon von weitem entgegen und erfüllte mich immer wieder mit Stolz auf mein Werk.
Schon wenn ich im Frühjahr den harten Lehmboden lockerte, vorsichtig Unkräuter ausstach und die Pflanzlöcher vorbereitete, sah ich das fertige Bild vor meinem inneren Auge. Für andere mochten es nichtssagende braune Knollen sein – für mich waren es die feuerroten Blütenbälle des Roten Sterns , die leuchtend orangefarbenen der Glorie von Norwijk oder die fast schwarzen der Arabischen Nächte .
Die letzten Jahre war ich allerdings nur noch selten dazu gekommen, meinen Garten hingebungsvoll zu pflegen. Mutters Krankheit, die ich anfangs für einen Trick gehalten hatte, noch mehr meiner Zeit für sich zu beanspruchen, hatte immer stärker unser tägliches Leben bestimmt. Ob im Krankenhaus oder zu Hause, sie ließ mich kaum von ihrer Seite. Auch wenn sie zu schlafen schien, öffnete sie sofort die Augen, sobald ich Anstalten machte, mich wegzuschleichen, und fragte anklagend: »Wo willst du denn
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