Schlüsselfertig: Roman (German Edition)
den Tisch gedeckt. Aus dem Backofen duftete es nach Apfelstrudel. Tante Hilde war gerade damit beschäftigt, Tee in Mutters Villeroy-&-Boch -Tassen zu gießen, die, solange ich zurückdenken konnte, nie benutzt worden waren.
»Ich habe alles gefunden«, stellte Tante Hilde so zufrieden fest, dass ich den ersten Impuls, gegen das Sakrileg zu protestieren, unterdrückte und gehorsam meine dampfende Tasse aus ihren Händen entgegennahm.
»So lerne ich dich doch endlich kennen«, stellte sie strahlend fest. »Du siehst gar nicht nach unserer Familie aus, viel eher nach Giuseppe.«
Ich fühlte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte, das Blut in meinen Ohren pochte. Mein Leben lang hatte ich über meinen Vater gerätselt – und nun saß mir jemand gegenüber, der so selbstverständlich über ihn sprach, als hätte er ihn gut gekannt!
Meine plötzliche Blässe war Tante Hilde nicht entgangen.
»Ach herrje, hat sie dir das auch verschwiegen?«, fragte sie ungläubig. »Wie hat sie dir denn dein südländisches Aussehen erklärt?«
»Gar nicht.« Als ich alt genug gewesen war, mir darüber Gedanken zu machen, hatte ich schon lange nicht mehr die Unbefangenheit besessen, Mutter danach zu fragen. Mein Vater war ein Thema, das einfach nicht berührt wurde. Das hatte ich sehr früh gelernt.
Vorsichtig stellte ich die Tasse ab. Meine Hände zitterten. Ich hatte das Gefühl, dass meine vertraute Welt um mich herum unkontrolliert schwankte. Alles schien sich aufzulösen, durcheinander zu wirbeln.
Warme Hände schlossen sich tröstend um meine, braune Augen zwinkerten mir aufmunternd zu.
»Entschuldige, ich bin ein Trampel, dass ich so mit allem herausplatze. Ich hätte wissen müssen, dass Margarethe …« Tante Hilde beobachtete mich so intensiv wie eine Krankenschwester einen Schwerkranken, als sie fortfuhr: »Hat deine Mutter nie von deinem Vater gesprochen?«
Mein einfaches Kopfschütteln schien sie zu erschüttern.
»Du lieber Himmel – ich weiß überhaupt nicht, wie ich anfangen soll. Möchtest du jetzt etwas über deinen Vater erfahren, oder sollen wir bis morgen warten?«, fragte sie schließlich behutsam. »Vielleicht ist alles auf einmal ein bisschen viel …« Nein, ich hatte lange genug in einem Vakuum gelebt. Zu erfahren, dass es ein künstlich erzeugtes gewesen war, wirkte verwirrend und gleichzeitig beruhigend. Es schien mir so unwirklich: Auf einmal war an die Stelle eines gesichtslosen Erzeugers ein Mensch aus Fleisch und Blut getreten. Die Glasglocke, unter der ich gelebt hatte, hob sich. Mir war schwindlig, aber ich sagte mit fester Stimme: »Nein, ich möchte nicht warten.«
Tante Hilde nickte zustimmend, trank ihren Tee aus und verschwand geheimnisvoll lächelnd. Mit einem dicken, in braunes Leder gebundenen Buch kam sie zurück.
»In der Eile habe ich einfach unser Familienalbum gegriffen. Ich habe leider keine Zeit gehabt, die Bilder zu sortieren«, erklärte sie entschuldigend. »Aber einige Bilder von Margarethe und Giuseppe sind natürlich dabei.«
Mit dem braunen Lederband und der Flasche Sherry aus Mutters Kredenz setzten wir uns aufs Sofa und öffneten die Tür zur Vergangenheit.
Mit leicht zitternden Händen schlug ich eine Seite nach der anderen um. Säuglingsbilder, steif wirkende Männer in dunklen Anzügen und mit verhärmten Gesichtern, Frauen in Schürze und Kopftuch.
»Das ist zu früh, blättere weiter. Margarethe ist ein paar Jahre nach mir geboren, und wir haben uns erst später als Schulmädchen immer in den Sommerferien getroffen. Ein Jahr kam sie zu uns, ein Jahr fuhr ich zu ihr. Damals wurde noch nicht so viel fotografiert. – Da! Ich glaube das ist das erste Bild von uns beiden. Das ist zu meinem 16. Geburtstag. Da muss Margarethe zwölf gewesen sein. Unglaublich, wie erwachsen sie schon wirkt, nicht?«
Auf der Schwarzweiß-Aufnahme lächelte unverkennbar Tante Hilde, die dicken Zöpfe zu einer Krone geschlungen. Neben ihr, schon damals kühl und unnahbar, Mutter: die blonden Locken von einem Stirnreif zurückgehalten, die Bluse makellos gebügelt. Ihr zu Füßen ein kleiner Spaniel.
»Sie hatte einen Hund?«, fragte ich ungläubig.
»Nicht lange. Ihr Vater brachte ihn ihr von einer Geschäftsreise mit. Aber er war ein kleiner Tunichtgut. Als er eines Tages ihre Pantoffeln zerkaute, brachte sie ihn stillschweigend ins Tierheim und behauptete, sie sei allergisch gegen Tierhaare.« Ich blätterte weiter. Ein Familienausflug: lachende Gesichter, die übermütige
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