Schlüsselfertig: Roman (German Edition)
Grimassen schnitten. Tante Hilde kicherte: »Schau, das da sind deine Großeltern, und das dicke Paar sind meine Eltern. Meine Mutter und dein Großvater waren Geschwister.«
Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Neben meinem Großvater wirkten Frau und Tochter kindlich schmal und zerbrechlich. Feen neben einem fröhlichen Wikinger.
Dann tauchten plötzlich Bilder von einem schlanken, dunklen Mann auf. Meist zusammen mit Mutter – einer lächelnden, jungen Mutter. Eine Aufnahme gefiel mir besonders: Er stand hinter ihr und lächelte über ihre Schulter in die Kamera, sie blickte zu ihm auf, die schlanke Hand auf seinen Arm gelegt. Ein schönes Paar.
»Dein Vater betete sie an.« Tante Hildes Stimme klang belegt. Sie räusperte sich und fuhr fort: »Als sie heirateten, kam seine ganze Verwandtschaft aus Sizilien. Mit einem Reisebus – stell dir das vor! Nette Leute, aber Margarethe fand sie schrecklich: zu laut, zu anstrengend, zu unbeherrscht. Sie weigerte sich, ihre Flitterwochen dort zu verbringen. Giuseppe war tief verletzt, aber er gab nach.«
Die nächsten Fotos von den beiden stammten aus der Zeit der ersten Farbfilme. Verblasst und fremdartig zeigten sie bereits eine Familie, ein Baby im Arm der jungen Frau, der Blick der Mutter eher unangenehm berührt als liebevoll.
Auf dem folgenden Bild hielt der stolze Vater das Kleinkind vorsichtig an den Händen und unterstützte es bei ersten Laufversuchen neben einem Sandkasten. Ich blätterte weiter, aber die restlichen Aufnahmen zeigten ausnahmslos Unbekannte. »Was ist geschehen?«
Tante Hilde zuckte hilflos die Schultern und schloss energisch das Album. »Ganz genau weiß das keiner. Ich war damals mit meiner eigenen Familie beschäftigt. Es gab so etwas wie einen Skandal, weil Giuseppe ein Verhältnis mit einer stadtbekannten lockeren Dame hatte und irgendwie in die Umstände ihres tödlichen Unfalls verwickelt war. Margarethe verlangte die Scheidung und verschwand von einem Tag auf den anderen spurlos. Wir dachten alle, sie wäre vielleicht ausgewandert, weil sie nicht einmal zum Begräbnis ihrer Eltern kam. Die armen haben bis zuletzt gehofft, ihr Enkelkind noch einmal zu sehen.« Tante Hildes Stimme spiegelte ihre unterschwellige Empörung wider.
Mich wunderte ihre offensichtliche Ignoranz. Es war Mutters Art gewesen, einmal getroffene Entscheidungen nicht zu revidieren. Für »sentimentalen Quatsch« hatte sie nicht viel übrig gehabt. Wenn sie entschieden hatte, alle alten Verbindungen zu kappen, hatte sie es sicher als endgültig betrachtet.
Und damit stellte sich die Frage, wieso Tante Hilde und ich uns überhaupt hatten kennen lernen können. »Wie hast du von Mutters Tod erfahren?«
»Dieser Rechtsanwalt hat mir geschrieben. Wie hieß er noch – Weidenmann oder so ähnlich? Der, bei dem deine Mutter ihr Testament hinterlegt hat. Scheinbar hat sie verfügt, dass ich von ihrem Tod zu informieren bin.«
Die Sache wurde immer verwirrender. Hatte Mutter doch Gewissensbisse bekommen? Wollte sie mich nicht ganz allein auf mich gestellt zurücklassen? Es wäre eine tröstliche Vorstellung, zu glauben, dass sie diese Verfügung aus einem Gefühl der Fürsorge und Zuneigung für mich heraus getroffen hätte.
Auf einmal musste ich gegen meinen Willen gähnen. Die emotionale Aufregung forderte ihren Tribut. Ich wollte nur noch in mein Bett, die Decke über den Kopf ziehen und alles hinter mir lassen.
Tante Hilde strich mir verständnisvoll über die Haare: »Geh zu Bett, Kind. Du siehst total erschöpft aus. Ich finde mich schon zurecht.«
In den folgenden Stunden träumte ich die bizarrsten Träume, die mich jemals heimgesucht hatten. Meine Mutter, die ich niemals hatte laut werden hören, schrie so laut und anhaltend, dass ich mir die Ohren zuhalten musste und es trotzdem noch schmerzhaft schrill an mein Trommelfell brandete. Ein kleiner Hund mit dem Kopf meines Vaters knabberte übermütig an ihren Pantoffeln, und sie trat ihn weg, so dass er in weitem Bogen davonflog. Aber bevor er aufschlug, verwandelte er sich in einen Vogel, der sich in die Höhe schraubte, bis er nicht mehr zu sehen war. Meine Mutter schrie immer noch, den Kopf in den Nacken gelegt. Ich konnte ihre Wut, ihre Enttäuschung und ihren Zorn fühlen, als seien es meine eigenen Gefühle, und sie machten mir Angst. Um sie herum war Leere. Nichts existierte darin als dieser Zorn, schwarz und erstickend.
Und dann sah ich mich. Ich versuchte, zu meiner Mutter zu gelangen, aber die
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