Schlussblende
Umhängetasche gründlich ab. Keine Schlüssel.
Vance stopfte alles zurück in Shaz’ Tasche, klemmte sich den Aktenordner unter den Arm und kauerte sich neben die Gefesselte. Er klopfte sie von oben bis unten ab, und siehe da, in der Hosentasche fand er die Schlüssel. Lächelnd stieg er die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer, nahm einen großen gefütterten Umschlag aus dem Schrank, schob Shaz’ Aktenordner hinein, schrieb als Adresse seinen Schlupfwinkel in Northumberland auf den Umschlag, klebte ihn zu und frankierte ihn.
Ein rascher Blick auf die Uhr. Noch nicht mal halb elf, Zeit genug, sich im Schlafzimmer umzuziehen. Jeans, eines seiner wenigen kurzärmligen T-Shirts und ein Baumwolljackett. Dann kramte er aus den Tiefen des eingebauten Kleiderschranks eines seiner Geheimutensilien heraus: die Nike-Baseballkappe mit dem angenähten von grauen Strähnen durchzogenen, schulterlangen Haarteil. Der Effekt war bemerkenswert. Er setzte die Fliegerbrille mit den ungeschliffenen Gläsern auf und stopfte sich die Wangen mit Schaumpolstern aus. Die Verwandlung war komplett. Nun konnte ihn nur noch der prothetische Arm verraten, aber auch dafür wußte er Rat.
Er verließ das Haus, schloß hinter sich ab, stieg in Shaz’ Wagen, nahm sich Zeit, die Sitzposition seinen längeren Beinen anzupassen, sich mit dem Armaturenbrett vertraut zu machen und davon zu überzeugen, daß er, auch wenn die Linke auf dem Lenkrad lag, mit der Prothese die ein wenig harte Gangschaltung bedienen konnte. Dann fuhr er los. Er hielt an einem Briefkasten in Ladbroke Grove, um den Umschlag einzuwerfen, und als er kurz nach elf die Auffahrt zur M 1 erreichte, gestattete er sich ein kleines, nur für ihn selbst bestimmtes Lächeln. Bestimmt tat es Shaz Bowman, wenn sie wieder zu sich kam, sehr, sehr leid, daß sie seine Pfade gekreuzt hatte. Aber nicht lange.
Der erste Schmerz, den sie spürte, kam von dem Krampf im linken Bein. Er war so heftig, daß er sie aus der Bewußtlosigkeit riß. Durch instinktive Dehn- und Streckbewegungen der Zehen vermochte sie ihn so weit zu dämpfen, daß nicht viel mehr als ein lähmend dumpfes Schmerzgefühl übrigblieb. Unter ihrer Schädeldecke hämmerte es. Es fiel ihr schwer, klare Gedanken zu fassen. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, aber es blieb dunkel. Allmählich wurde ihr klar, daß ihr Kopf in einer Art Haube aus dickem, weichem Stoff steckte. Irgend etwas war so straff um ihren Hals gewickelt, daß sie kaum schlucken konnte.
Auch die seltsam gekrümmte Art, in der sie dalag, konnte sie sich erst allmählich erklären. Sie lag auf der Seite, auf hartem Untergrund, die Hände auf dem Rücken gefesselt, anscheinend mit einem ummantelten Draht, der ihr scharf in die Handgelenke schnitt. Ihre Fußgelenke waren ebenfalls gefesselt, und daß sie so krumm dalag und sich kaum rühren konnte, kam daher, daß die obere Fessel mit der unteren verbunden war. Jede Bewegung – die Beine auszustrecken oder der Versuch, sich zu drehen – verursachte höllische Schmerzen. Sie hatte keine Ahnung, wie groß ihr Bewegungsspielraum war, und nach dem ersten Versuch, sich herumzuwälzen, war ihr die Lust vergangen, es herauszufinden.
Sie wußte auch nicht, wie lange sie bewußtlos gewesen war. Das letzte, woran sie sich erinnerte, war, daß Vance sich grinsend über sie gebeugt hatte. Als wollte er ihr demonstrieren, daß er nichts zu befürchten habe, weil sich keine Menschenseele um die vorwitzige, kleine DC Bowman scherte, die ihre neugierige Nase ein bißchen zu tief in seine Angelegenheiten gesteckt hatte. Nein, ganz so stimmte das nicht, da war noch etwas anderes, was in ihrer Erinnerung schlummerte. Sie versuchte, sich durch Atem- und Entspannungsübungen zu konzentrieren, und dann hatte sie’s. Sie sah wieder die rasche Bewegung vor sich, die sie aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte, als sein rechter Arm auf sie zugeschnellt und wie eine Keule auf ihrem Schädel niedergegangen war. Ja, das war das letzte, woran sie sich erinnern konnte.
Mit der Erinnerung kam die Angst, und die setzte ihr mehr zu als alle körperlichen Schmerzen. Niemand wußte, wo sie war. Außer Chris, aber die rechnete nicht damit, daß sie sich in nächster Zeit bei ihr meldete. Sie hatte auch Simon nichts von ihrem Vorhaben erzählt, keinem in der Gruppe, aus Scheu vor ihren Hänseleien, auch wenn sie freundlich gemeint waren. Eine Scheu, die sie jetzt das Leben kosten konnte, darüber machte sie sich keine Illusionen.
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