Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Erfahrung. Ob neue Kleider oder eine Autoreparatur, wir mussten plötzlich nachrechnen, ob wir uns das gerade leisten konnten. Aber damit sind wir klargekommen, das war kein Drama. Etwas anderes bedrückte uns viel mehr: die Angst.
Ich wusste nicht, was geschehen war, ich wusste nicht, was noch geschehen konnte. Ob der Mörder es auch auf meine Mutter abgesehen hatte. Oder auf uns. Angst, das bedeutet: Wenn es dämmerte und dunkel wurde, schaute ich oft hinter mich. Wenn ich spürte, dass hinter mir jemand ging, nahm ich all meinen Mut zusammen, blieb stehen und wartete, bis er mich überholt hatte. Ich drehte mich um, zehnmal auf hundert Metern. Kleinste Geräusche konnten mich in Panik versetzen. Ob ich zur Schule ging oder von einer Freundin nach Hause kam: Die Angst war immer gegenwärtig, es musste nur eine Tür zufallen, und ich erschrak zutiefst und dachte automatisch, vielleicht bin ich jetzt dran. Es ist bis heute schlimm, wenn mich jemand nachts aufweckt. Mich umfängt dann immer dieses bedrohliche Gefühl wie in jener Nacht, als sie mich weckten.
Wenn ich einen Film sehe und jemand wird erschossen, weiß ich natürlich, dass alles nur gespielt ist, aber es nützt mir nichts. Es reicht, wenn ich im Elektromarkt an der Wand aus Bildschirmen zufällig eine brutale Filmszene sehe – und eine Lawine von Empfindungen und Gedanken löst sich in mir: Was fühlte mein Vater, als die Waffe auf ihn gerichtet wurde? Das ist heute nicht anders als damals, die Intensität solcher Momente lässt nicht nach. Meine Ängste wie unsere Nöte haben sich über die Jahre nicht verändert, aber auch die Liebe zu meinem Vater blieb. Ich habe nicht an ihm gezweifelt. Als Jugendliche erklärte ich der Polizei, es müssten bestimmt zwei gewesen sein, die ihn überfallen haben, denn meinen Vater fand ich so stark, dass er sich gegen einen bestimmt hätte wehren können.
Die andauernden Verdächtigungen aber wirkten nach. Im Unbewusstsein hallen die ständigen Unterstellungen nach. Frau Simsek, Ihr Mann hatte eine Affäre mit jemandem … Herr Bas, Ihr Schwager hat Ihre Schwester betrogen … Er hat mit Drogen gehandelt, er war Kurier … Irgendwann fragt man sich: Woher kommt das, dass diese Polizisten das glauben? Jeder Mensch hat eine dunkle Seite … Irgendeinen Anhaltspunkt müssen die Ermittler doch haben, wenn die das so sagen, es ist doch schließlich die Polizei. Eine Autorität.
Irgendwann taucht am Rande des Bewusstseins ein Fragezeichen auf. Ein Vielleicht. Ein Vielleicht-doch. Man drängt es weg, man will es nicht glauben. Man glaubt es auch nicht. Aber was, wenn doch? Immer wieder hörte ich von der anderen Frau, den Drogen, den schmutzigen Geschäften, nein, ich zweifelte nicht an meinem Vater. Aber.
Wir alle waren diesem Druck ausgesetzt, und am schlimmsten war es für meine Mutter. Sie hatte einen Mann, sie liebte ihn, plötzlich wurde er ermordet, sie wusste nicht, warum. Und die Polizei beharrte auf seinen Verfehlungen. Da gerätst du in einen Zwiespalt.
Wenn wir darauf pochten, dass er nicht so war, dass er so etwas doch nie getan hätte, dann hieß es selbst nach Jahren noch: Das können Sie doch gar nicht sicher wissen, wir wissen es ja auch nicht. Irgendetwas muss es doch gegeben haben – sonst wäre er nicht erschossen worden. Was konnte man dagegen sagen?
Der Druck ließ nicht nach. Dann geschah der zweite Mord.
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Viertes Kapitel
Mafia, Drogen, Irrtümer
Der Passant kam gegen 21 Uhr 20 an dem Eckhaus in der Nürnberger Südstadt vorbei. «Änderungsschneiderei aller Art» stand auf der Fensterscheibe. In dem Laden brannte Licht. So spät noch? Der Mann blickte durchs Schaufenster hinein. Der Raum war nicht groß, vielleicht fünfundzwanzig Quadratmeter. Drinnen, zwischen dichtbehängten Kleiderständern und zwei Tischen, auf denen ein paar alte Nähmaschinen standen, saß ein Mensch, er trug Strickweste, Stoffhose und Filzpantoffeln. Aber er saß nicht auf einem Stuhl, sondern auf dem Boden, den Kopf zur Seite geneigt, an die Wand gelehnt. Blut war ihm aus Mund und Nase geronnen und auch von der Schläfe, breitete sich um ihn her auf dem Boden aus. Der Mann vor dem Fenster rief sofort die Polizei.
Am Tag seines Todes, dem 13. Juni 2001, hatte Abdurrahim Özüdogru wie so oft um 5 Uhr 45 seine Karte in die Stechuhr gesteckt, er arbeitete als Maschinenführer im Schichtbetrieb. Um 13 Uhr 51 hatte er ausgestempelt, war mit einem Kollegen nach Hause gefahren, und am
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