Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Punkt musste das Protokoll geprüft werden: Kann das alles stimmen, was Yildirim gesagt hat? Decken sich seine Aussagen mit polizeibekanntem Faktenwissen? Auch sollte der systematische Abgleich bald erfolgen. Im April 2001 allerdings, als der Vernehmungsbeamte gegenüber Adile Simsek so tat, als sei alles schon bewiesen, hatte man Yildirims Geschichte in Wahrheit noch keinerlei Faktencheck unterzogen.
Vom zweiten Mord erfuhren wir durch die Polizei. Sie kamen vorbei und erzählten uns, dass jemand umgebracht worden sei, mit derselben Waffe, der Ceska. Dann suchten sie nach Verbindungen, wollten wissen, ob wir die betroffene Familie kennen. Wir kannten sie nicht im Entferntesten. So schlimm die Nachricht war, sie brachte uns auch eine Gewissheit. Denn damit war klar, dass es niemand aus der Familie oder unserem Bekanntenkreis gewesen sein konnte. Mein Vater war nicht aus Neid oder Missgunst ermordet worden. Die Familie des zweiten Opfers stammte aus Bursa, einer Stadt, die fast zwölf Autostunden von Salur entfernt liegt. Es gab keine Gemeinsamkeit, keine Bekannten. Das Einzige, was uns verband, waren die Waffe und der Tatort Nürnberg.
Die Familie Özüdogru war in ihrer Trauer so ratlos wie wir. Für die Polizei gewann durch den zweiten Mord die Rauschgifttheorie sogar noch an Bedeutung. Bei einer Untersuchung hatte sie offenbar Spuren entdeckt und ging nun davon aus, dass sich in Koffern des zweiten Mordopfers Drogen befunden hatten. Ich fragte mich, wie zwingend diese Schlussfolgerung war. Vielleicht hatten die Koffer einmal jemand anderem gehört. Vielleicht hatte er sie mal ausgeliehen. Aber für die Polizei war jedes kleinste Zeichen schon ein Hinweis, um die Drogenspur bestätigt zu sehen. Auch wenn die Ermittler uns nie genau mitteilten, welchen Theorien sie gerade nachgingen, erfuhren wir meist auf Umwegen, was sie dachten. Irgendein Beamter redete gegenüber einer Zeitung von Drogen, und bald erzählte man uns davon. Manchmal informierten uns die Nürnberger Polizisten immerhin in groben Zügen, was sich bei ihnen tat. Sie kamen zwar nie, um uns aufzuklären, immer nur, um Fragen zu stellen, aber am Ende der Gespräche gaben sie bisweilen dies oder das preis.
In den ersten Jahren nach dem Tod meines Vaters war es für mich eine willkommene Ablenkung, mich auf die Schule zu konzentrieren. Ich war nun zur Selbständigkeit gezwungen und hatte das Gefühl, mehr selbst leisten und tun zu müssen. Den Vater, der sich immer um alles für uns gekümmert hatte, gab es nun einmal nicht mehr. 2002 schloss ich in Aschaffenburg die Berufsfachschule ab. Meine Mutter war froh, dass ich das trotz unserer schwierigen Situation gut schaffte. Danach machte ich mein Fachabitur in Hanau. Wer die Berufsfachschule absolviert hatte und sich ein großes Lernpensum zutraute, dem konnte die Abiturzeit von zwei Jahren auf eines verkürzt werden. Ich nahm die Herausforderung an.
Bis zur mittleren Reife war ich eine gute Schülerin gewesen, sodass ich mir den Weg zum Fachabi ein bisschen leichter vorstellte, doch bei den ersten Hausaufgaben und Klausuren merkte ich, dass die Sache härter würde als vermutet. Aber ich ziehe Sachen durch, die ich anfange. Zu dieser Zeit lebte ich wieder bei meiner Mutter in Schlüchtern, und das hieß: Um fünf Uhr stand ich auf, marschierte zum Bahnhof, fuhr nach Hanau, um schließlich gegen acht Uhr in der Schule anzukommen. Der Unterricht ging bis zwei, drei Uhr, manchmal bis vier, vor sechs kam ich selten nach Hause, nach dem Essen lernte ich bis acht oder neun. Danach traf ich meine Freundinnen, oft nur für eine Stunde, aber das war mir wichtig. Insgesamt war es ein hartes Programm, aber Gott sei Dank ging die Zeit schnell vorbei. Es war eins der anstrengendsten Jahre in meinem Leben – aber auch eines der schönsten. In Hanau kannte ich niemanden, aber das ging allen so, und für Freundschaften blieb sowieso nicht viel Zeit. Zudem waren die meisten anderen Schüler mehrere Jahre älter als ich, oft Mitte zwanzig, da knüpft man als Teenager nicht so leicht Kontakt. Manchmal habe ich mich überfordert gefühlt, vor allem in Mathe stieß ich an meine Grenzen. Aber ich habe es geschafft, 2003, mit siebzehn Jahren, machte ich mein Fachabitur.
Ich hatte zu kämpfen, es war keine leichte Zeit, und ohne meine vier besten Freundinnen hätte ich vielleicht nicht durchgehalten. Sie haben mich unterstützt, indem sie einfach da waren. Ich wusste, ich bin nicht allein, ich bin es ihnen wert, dass sie
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