Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Spätnachmittag war er in die Schneiderei gegangen. Er betrieb das Geschäft nach Feierabend.
Die erste Kugel traf den Neunundvierzigjährigen aus höchstens zwei Metern Entfernung ins Gesicht, der zweite Schuss drang aus kürzester Distanz in die Schläfe des bereits Niedergesunkenen. Die ballistische Untersuchung ergab: Die Tatwaffe war dieselbe Ceska, mit der Enver Simsek ermordet worden war.
Danach ereigneten sich in rascher Folge der dritte und der vierte Ceska-Mord. Am Morgen des 27. Juni 2001 belegte Ali Tasköprü Brötchen in seinem kleinen Lebensmittelmarkt in Hamburg-Bahrenfeld, während Süleyman Tasköprü den Tresen für die Kunden richtete. Vater Ali hatte den Betrieb aufgebaut, Sohn Süleyman, einunddreißig, sollte schrittweise in die Rolle des Nachfolgers hineinwachsen. Am späteren Vormittag bemerkte der Sohn, dass die Oliven zur Neige gingen, und schickte seinen Vater los, um bei einem anderen Händler zwei Straßen weiter Nachschub zu holen. Als Ali Tasköprü zurückkehrte, sah er zuerst die Flüssigkeit: Neben dem Tresen breitete sie sich auf dem Boden aus, er dachte, es könnte irgendwo Öl ausgelaufen sein. Und dann sah er seinen Sohn liegen. Ali Tasköprü trat näher heran und erkannte, dass die Flüssigkeit Blut war. Er sank nieder, kauerte sich neben Süleyman und nahm den Kopf des Jungen in den Schoß. Der lebensgefährlich Verletzte war noch bei Bewusstsein, bewegte Zunge und Lippen, aber es kam keine Stimme mehr aus ihm. Zwei Kopfschüsse, ergab die Autopsie.
Kopfschüsse aus nächster Nähe töteten auch Habil Kilic, achtunddreißig, in seinem Obst- und Gemüseladen im Münchner Stadtteil Ramersdorf. Die Ladentür war hier immer offen, «Türkische Spezialitäten» stand über einem Fenster, draußen unter der Markise stapelten sie die Kisten mit Äpfeln und Birnen, Melonen, Trauben, Aprikosen und Tomaten, drinnen gab es Oliven und Schafskäse, und hier fand man Habil Kilic am 29. August 2001.
Wenn die Polizei einen schwierigen Fall aufzuklären hat, gründet sie eine Sonderkommission. Die Soko zur Aufklärung der Morde an Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü und Habil Kilic erhielt den Namen «Halbmond». Diese Namenswahl verrät die Richtung, in die die Ermittlungen zielten: Offenbar ging es aus der Sicht der Polizisten um Geschehnisse in einer hermetischen, abgeschotteten Welt, einer «Halbmond-Welt», es ging um «Halbmond-Opfer» und «Halbmond-Täter», anders gesagt, um schmutzige Geschäfte unter Türken, Morde unter Türken. «Halbmond-Mafia» war ein gängiges Wort der Boulevardmedien für Organisierte Kriminalität im Türkenmilieu.
Dieser Spur folgten die Ermittler im Falle Enver Simseks immer entschlossener. Dieser Blumenhändler, so vermuteten sie, war ein Transporteur für Heroinstreckmittel. Im April 2001, in jener endgültig verstörenden Vernehmung, in der Adile Simsek aus Ratlosigkeit und Verzweiflung die Fassung und einen Moment lang auch das Vertrauen in ihren Mann verlor, hatte die Polizei diese Theorie dargestellt wie eine Tatsache. Wie aber kam sie dazu? Sie hatte tatsächlich Anhaltspunkte. Eine Rückblende.
Mit sieben Kilo Heroin hatte die Polizei einen Mann namens Yildirim erwischt. Das war ein paar Jahre zuvor geschehen, seit Oktober 1997 saß Yildirim bereits in Haft. Aber er hoffte, dass es einen Notausgang für ihn gab, nämlich dann, wenn er singen würde. Yildirim saß in Ludwigshafen ein. Wieder und wieder befragten die Beamten ihn zu Zusammenhängen, Hintermännern, Drahtziehern, Lieferwegen. Yildirim packte aus, was es auszupacken gab, denn diese Vernehmungen konnten ihm den Weg in ein Zeugenschutzprogramm ebnen. Aber er musste der Polizei auch Brauchbares liefern, und so war er fest entschlossen, ihnen zu erzählen, was sie hören wollten. In einer dieser Gesprächsrunden legten sie Yildirim eine Mappe mit Fotos vor, darauf Männer, Frauen, Alte wie Junge. Alle frontal abgelichtet und mit Nummern versehen, hundertvierundvierzig Bilder.
Yildirim blätterte die Mappe durch, beim einen oder anderen sagte er: Ja, den kenne er aus der Drogenszene. Danach meldeten die Beamten des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz den Nürnberger Kollegen: Wir haben da einen, der euch weiterhelfen könnte. Wir haben ihm die Mappe mit den Fotos aus dem Fall Simsek gezeigt, der weiß was. In der Mappe befanden sich Bilder von Enver Simsek, seinen Bekannten, Moscheefreunden, Blumenhändlerkollegen, auch Adile Simsek, Hüseyin Bas und
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