Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
übergriffige Frage: Ja, es war eine gute Ehe, gerade in jenem letzten Jahr.
Von 11 Uhr 5 bis 18 Uhr 35 zog sich die Vernehmung an diesem Tag hin, sieben quälende und entnervende Stunden lang, unterbrochen nur für dreißig Minuten Pause, in der meine Mutter sich kurz ausruhen konnte und das Nachmittagsgebet verrichtete.
Am 16. Januar folgte der nächste Akt in dem wiederholungsarmen Stück. Noch mal, fragten sie, was hatte es mit den fünfundzwanzigtausend Mark auf sich? Sie habe dieses Geld doch in Wahrheit heimlich eingezahlt, sie solle das doch zugeben, heimlich eingezahlt und heimlich wieder abgehoben, hinter dem Rücken ihres Mannes. Wozu brauchte sie das Geld, was oder wen wollte sie damit bezahlen?
Nein, antwortete meine Mutter, so war es nicht!
In dieser Ehe, bohrte der Polizist weiter, habe es offenbar Heimlichkeiten, Unehrlichkeiten, Unklarheiten in Geldangelegenheiten gegeben, so gut könne diese Ehe ja wohl doch nicht gewesen sein.
Doch, antwortete meine Mutter, das war sie!
Und hatte er eine Freundin?
Nein. Nein!
Vielleicht, sagte meine Mutter dann müde, vielleicht vor dem Hadsch. Womöglich vor der Pilgerreise nach Mekka, das wäre die einzige denkbare Zeit, womöglich damals. Aber nicht danach.
Aha, hakte der Polizist ein: Sie geben also zu, dass Ihr Mann vielleicht ein Verhältnis hatte. Wie heißt die Frau?
Nein, sagte meine Mutter verzweifelt, nein, so war das nicht gemeint! Sie wusste nichts von einer Affäre, nicht das Geringste, nie hatte mein Vater ihr irgendeinen Anlass zum Misstrauen gegeben, weder nach dem Hadsch noch davor, er war ihr doch treu gewesen!
Von 12 Uhr 5 bis 16 Uhr 30 dauerte diese Vernehmung, mehr als vier zehrende Stunden lang.
Es gab andere, ähnlich verlaufende Befragungen, und dann kam der Samstag, der 9. April 2001. Und diese Vernehmung, die wer-weiß-wievielte, stürzte meine Mutter in den Abgrund der Ratlosigkeit, in den Sog der Verzweiflung und Wut. Wieder einmal wurde sie belehrt und auf ihre Wahrheitspflicht hingewiesen, wieder wurde ihr erklärt, dass sie Angaben, mit denen sie sich selbst belaste, verweigern könne. Und wieder spielte der Vernehmer die längst bekannten Themen und Motive durch, nur rhetorisch hier und da anders instrumentiert. Vor meiner Mutter auf dem Schreibtisch lag ein Bild von Vater. Während des Gesprächs glitt ihr Blick immer wieder dorthin ab, das Foto wurde ihr zu einem Anker in der Bedrängnis. Die Fragen tröpfelten vor sich hin, zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten ging es nur um Belangloses, Kleinigkeiten, Beiläufiges, Alltäglichkeiten, die schon hundertmal durchgekaut worden waren: Wo hatten Sie Ihre Blumenstände? Wer verkaufte dort wann? Was gab es da zu verdienen?
Es ging schleppend voran, irgendwann nahm meine Mutter das Foto in die Hand und sah es ein paar Sekunden lang gedankenverloren an, als stünden die Antworten auf all diese Fragen Vater ins Gesicht geschrieben.
Freitags, sagte sie und legte das Bild zurück auf die Tischplatte, freitags verkaufte sie oft Sträuße an einem Stand in Flieden. Mein Vater half ihr beim Aufbauen, danach ging er in die Moschee, zum Gebet.
Wie läuft das Blumengeschäft jetzt, wollte der Polizist wissen. Ach, nicht mehr so gut? Dann, ein Hakenschlagen, die Frage: Und haben Sie mittlerweile eine Idee, wer Ihren Mann umgebracht haben könnte?
Meine Mutter senkte den Blick, hielt sich mit den Augen am Foto fest. Nein, sagte sie, sie wisse nicht, weshalb ihr Mann sterben musste. Sie erzählte dem Polizisten, dass sie mittlerweile an Depressionen litt, sie habe Angst, selber ermordet zu werden, habe Angst um ihre Brüder und um uns Kinder.
Anderthalb Stunden waren bereits in diesem routiniert quälenden Rhythmus dahingegangen, vielleicht auch zwei. Der Ermittler schwieg vor sich hin, als falle ihm keine weitere Frage ein. Die Polizei –, sagte er, machte eine Pause, setzte neu an, die Polizei habe herausgefunden, dass Enver Simsek Streckmittel für Heroin transportierte. Er sei als Drogenkurier von Holland nach Deutschland gefahren, habe Verbindungen zu Dealern in Frankfurt gehabt.
Der Beamte stellte alles dar, als handle es sich um unumstößliche Tatsachen. Dann schwieg er und beobachtete die Wirkung seiner Worte. Er sah meine Mutter an, sah auf das Foto, dann wieder auf sie: Was sagen Sie dazu?
Nein, antwortete meine Mutter, nein. Ich glaube das nicht. Er ist doch ein gläubiger Mann gewesen. Unvorstellbar. Nein.
Sie stockte, hob die Hände, als wolle sie nach Vaters
Weitere Kostenlose Bücher