Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
verbittert, sie blieb offen, sie fällt keine schnellen Urteile und nimmt die Menschen an, wie sie sind. Von ihr habe ich gelernt, tolerant zu sein und die Menschen in ihrer Eigenart zu akzeptieren.
Meine Mutter war sechsunddreißig, als Vater starb. Sie hätte noch einmal heiraten und ein anderes Leben beginnen können, aber sie wollte diesen Schritt nicht vollziehen. Sie betet viel für ihren Mann, und wenn sie in der Türkei ist, besucht sie oft sein Grab. Sie glaubt fest an ein Leben nach dem Tod und ist überzeugt, dass sie ihm treu bleiben muss, um nachher an seiner Seite weiterzuleben. Sie hat all ihre Energie und Kraft in uns Kinder gesteckt. Meine Eltern wollten nur zwei Kinder haben, aber heute sagt meine Mutter manchmal: Hätte ich gewusst, was passiert, hätte ich noch fünf weitere bekommen. Für sie lebt mein Vater in uns fort.
Auch Onkel Hursit wurde krank von dem, was nach dem Mord über uns hereinbrach. Er fühlte sich verantwortlich, wollte für uns da sein, wir waren auch seine Familie. Deshalb zog Hursit mit Frau und Kindern nach Schlüchtern. Er wollte der Aufgabe gerecht werden, die ihm durch den Tod meines Vaters zugefallen war, und den Blumengroßhandel weiterführen. Einige Monate lang tat er sein Bestes, aber es war nichts für ihn. Er ist ein anderer Mensch als mein Vater, kein Geschäftsmann. Zwar hatte er seit seiner Ankunft in Deutschland immer gearbeitet, erst in der Fabrik, später als Lkw-Fahrer, aber für das Blumengeschäft hatte er kein Gespür. Bei den Versteigerungen in Holland wusste er nicht, wann er drücken und wann er zögern sollte. Manchmal kaufte er zu viele Blumen zu teuer ein, manchmal brachte er zu wenig und schlechte Ware mit nach Hause.
Später hat er uns erzählt, wie ihn in dieser Zeit die Angst und die Fragen quälten, während des Tages und darüber hinaus: Was war mit seinem Schwager geschehen? Warum beharrte die Polizei auf dem Drogenverdacht? Hatten ihn womöglich Dealer abgepasst, als er auf seinen Rückfahrten an einem Rastplatz hielt? Hatten sie ihn zu Kurierdiensten gezwungen? Hatten sie ihn umgebracht, weil er sich dem entziehen wollte? Mit solchen Ängsten stand Hursit dann selber an der Autobahn und versuchte, in den Gesichtern der Menschen auf dem Parkplatz zu lesen: Wollte ihm hier jemand Böses? Wurde er vielleicht beobachtet, beschattet? Machte Hursit sich zum nächsten Opfer, weil er den Lastwagen mit dem Aufdruck «Simsek» fuhr?
Wenn er nachts aus Holland heimkehrte und die Rampe hinab ins Dunkel des Lagers fuhr, erwartete er fast, dass jemand aus dem Schatten in den Lichtkegel der Scheinwerfer treten und auf ihn schießen würde. Zu Hause, im Traum, sah er oft noch einmal die nächtliche Rampe vor sich, aber aus dem Finstern entgegen kam ihm sein Schwager. Nie sagte Papa etwas in diesen Träumen. Er stand da, wie ein Vorwurf, wie eine Anklage. Nach solchen Nächten fand Hursit seine Ruhe nicht leicht wieder.
Die Verdächtigungen der Polizei verfolgten uns in das alltägliche Leben hinein, noch lang nach den Vernehmungen. Einmal schrieb uns eine türkische Investmentgesellschaft, bei der mein Vater sechzigtausend Mark angelegt hatte, dass wir uns das Geld auszahlen lassen könnten. Hursit riet seiner Schwester davon ab. Sicher, das Geld könnte sie gebrauchen, aber wie sähe das aus? Die Polizei würde das doch nur als weiteren Anhaltspunkt nehmen, dass die eigene Verwandtschaft meinen Vater ermordet habe, um an sein Vermögen zu kommen … Also ließen wir das Geld liegen. Nach dem 11. September 2001, als nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center die Börsenkurse abstürzten, war die Anlage nichts mehr wert. Keiner von uns machte Hursit deshalb einen Vorwurf. Er hat sich aufopferungsvoll für unsere Familie eingesetzt, aber die Jahre waren niederdrückend, und die Depression schlich sich auch in sein Leben. Immer öfter peinigten ihn schlimme Kopfschmerzen, bis er nur noch mit Medikamenten leben konnte. Später hat er uns erzählt, dass er in manchen Monaten jeden Tag daran dachte, sich umzubringen. Seiner neuen Aufgabe als Blumengroßhändler war er nicht gewachsen, irgendwann warf das Geschäft keine Einkünfte mehr ab und war nicht mehr zu halten, meine Mutter wurde Sozialhilfeempfängerin. Und das Finanzamt kam mit Steuernachforderungen daher, die wir natürlich nicht zahlen konnten. Auf einmal hatten wir einen Berg Schulden.
Dass sich unsere materiellen Lebensumstände so sehr veränderten, war eine weitere drastische
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